Unter der "dünnen Decke der Aufklärung" herrschen Aberglaube und irrationale Ängste: Gerhard Jäger.

Foto: Julia Hammerle / Die Lichtbildnerei

Gerhard Jäger, "Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod". € 23,70 / 400 Seiten. Blessing, München 2016.

Foto: Blessing

Wenn der Schriftsteller Gerhard Jäger, Jahrgang 1966, in seinem Roman mit dem monströsen Titel Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod einen jungen Historiker aus der Wienerstadt in ein archaisch anmutendes Tiroler Alpendorf schickt, dann folgt er einem bewährten Topos der österreichischen Nachkriegsliteratur: Ein Fremder dringt in eine raue, wilde, abgeschlossene Welt ein und durchläuft einen radikalen Lebenswandel. Und darüber hinaus gerät das seit jeher unumstößliche Gefüge einer vormodernen Welt aus den Fugen.

In Thomas Bernhards erstem Roman Frost (1963) gelangt ein Medizinstudent zu Beobachtungszwecken in einen Gebirgsort. Bei Hans Lebert, der 1960 mit Die Wolfshaut die erste Antiheimatparabel Österreichs schrieb, rächt ein Außenseiter im Dorf Schweigen Jahre zurückliegende Nazi-Morde. Auch Gerhard Roths 1980 erschienener Roman Der Stille Ozean handelt von einem Städter, der in einem Dorf in der Südsteiermark die Natur, die Menschen und sich selbst zu erkennen versucht.

Verschwundener Cousin

Gerhard Jäger nun setzt dem Genre der facettenreichen Antiheimatliteratur ein neues, in hohem Maße gelungenes Werk hinzu. Er bedient sich zahlreicher Motive und Themen der besagten Werke, formt sie um, führt sie fort. Außerdem gerät die Auseinandersetzung mit dem problematischen Begriff Heimat natürlich nicht außer Mode, schon gar nicht in Zeiten renationalistischer Tendenzen.

Gerhard Jäger verweigert sich jeder Vereinnahmung. Er erschafft eine Welt, die von Härte, Wortlosigkeit und Misstrauen geprägt ist – ohne aber die großen Hoffnungen und geringen Möglichkeiten der Menschen außer Acht zu lassen.

Unter der "dünnen Decke der Aufklärung" herrschen Aberglaube und irrationale Ängste. Weniger dünn ist die Schneedecke, die sich zunächst unschuldsweiß über das abgelegene, namentlich nicht genannte Dorf legt und am Ende zur tödlichen Gefahr wird.

Es fallen Unmengen an Schnee in jenem sogenannten Lawinenwinter 1950/51, in dem 265 Tote zu beklagen waren und in dem wir uns nun wiederfinden. Die ungezügelte Natur drückt sich in den Gesichtern der faszinierenden Jäger’schen Figurenwelt aus, ähnlich wie bei Lebert spielt das Wetter eine herausragende Rolle. "Einige Minuten lang schwieg der Wind, schwieg der Wald, schwieg die Schlucht, als ob der Sturm alle Kraft sammeln würde, um dann von den Gipfeln und Graten loszubrechen."

Berge zwecks Roman

In der Rahmenhandlung begegnen wir einem 80-jährigen Ich-Erzähler aus den USA, der am Ende seines Lebens, es ist Mai 2006, beschließt, nach Innsbruck zu fliegen, um im Landesarchiv das Geheimnis seiner Familie zu lüften.

Er wird da sechs Tage lang den Text seines verschwundenen Cousins Max Schreiber – vier Binnenkapitel – lesen. War dieser ein Mörder? Was geschah damals im von Lawinen verschütteten Tiroler Bergdorf?

Um nicht weniger als einen Roman zu schreiben, begibt sich der 25-jährige promovierte Historiker Max Schreiber im Spätherbst 1950 in die Berge. Der Wissenschafter als Künstler. Er hat sich selbst den Auftrag gegeben, die Menschen in jenem Dorf zu beobachten, wo vor 100 Jahren eine Frau einen elendiglichen Verbrennungstod starb, "vor den Augen aller, mit dem Einverständnis aller".

Ein Fluch lastet auf dem Dorf. Schon bald wird Schreiber mit den kollektiven Verdrängungsmechanismen der Einheimischen konfrontiert. Sie wollen den "Eindringling, den Fremdling" nicht, sondern in Ruhe gelassen werden.

In der Folge durchläuft Max Schreiber – nomen est omen – einen Veränderungsprozess, zunächst im Sinne eines Bildungs- und Entwicklungsromans. Der Protagonist ist freilich ein Antiheld. Schönheit und Schrecken der Natur halten ihn vorerst noch vom Schreiben ab, er bringt Unruhe ins Dorf, die nicht nur dem Pfarrer sauer aufstößt.

Er gewinnt aber Vertrauen zu den Menschen, und nun gelingen ihm auch seine Notizen. In den Bann gezogen von Maria, einer stummen Frau "mit rotem Tuch", verliert er immer mehr die Kon trolle über sich und sein Handeln. Zu seinem Feindbild wird, nachdem sich erst eine Freundschaft anbahnte, der trinkfeste melancholische Bauer Georg Kühbauer, der sich schon lange um Maria bemüht.

Das Feuer, der Schnee

Der Konflikt eskaliert, Selbst- und Fremdwahrnehmung verschwimmen, der klare Historikerblick wird lawinenhaft verstellt. Getrieben von Eifersucht und Liebeswahn, zerstört Schreiber seine hart erarbeitete Beziehung zur einheimischen Bevölkerung. Wie ein Schatten huscht er durch die Nebenstraßen des Dorfes, seine Hilfe beim Schnee schaufeln wird nur noch geduldet.

Gerhard Jägers klug konstruierter Roman ist auch auf sprachlicher Ebene bemerkenswert, wenn auch auf ambivalente Weise. Ihn treibt ein starker Wille um Originalität an, den er in einer überhöhten Sprache zu finden sucht.

Überzeugend gelingt die langsame Veränderung der Sprache von symbolisch überfrachteten Naturbeschreibungen zu Beginn (der Schnee, das Feuer) hin zu klaren, durch ihre Distanz eindringlichen Beschreibungen menschlicher Nöte im Angesicht einer un entrinnbaren Katastrophe (die Schuld, der Tod).

Wiederholungen als literarisches Mittel scheinen es Jäger besonders angetan zu haben: "Sie, die Stimmen im Gasthaus, die Stimmen an den Häuserecken, die Stimmen in den Hausfluren, die Stimmen in den Ställen, in den Scheunen, die flüsternden Stimmen, die heiseren Stimmen, die leisen Stimmen."

Straffung wäre gut gewesen

An anderen Stellen aber werden Wiederholungen inflationär gebraucht, auch fehlt es an Straffung, hier hätte wohl das Lektorat strenger sein dürfen: Sehr oft fährt jemanden der Wind ins Gesicht, selten wird eine Gelegenheit ausgelassen, das "weiße in Leder gebundene Buch", Schreibers Beobachtungen, zu erwähnen.

Gerhard Jäger verhilft außerdem dem Motiv des Hand-an-die-Schultern-Legens als intensive freundschaftliche Geste zu Ruhm. Praktisch alle im Dorf machen das, womöglich, weil ihnen die Worte fehlen, um Emotionalität auszudrücken.

Wie gut Jäger erzählen kann, zeigt sich einerseits im Erschaffen von Situationen wie bei der grandiosen Abschlussszene in der Kirche oder im Wechsel von Gegenwart und Erinnerung, der sich in den Gedankenströmen des 80-jährigen Erzählers zeigt. Wenn dieser nach der Lektüre des Schreiber-Manuskripts das Innsbrucker Archiv verlässt, hat die Unruhe der Vergangenheit die Gegenwart eingeholt. (Sebastian Gilli, 6.1.2017)