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Zwischen Leben und Schreiben: Sechzig Jahre ist es her, dass Martin Walser, der im März 90 wird, seinen ersten Roman publizierte.

Foto: Felix Kaestle/dapd

Wien – Unverdrossen legt Martin Walser, der im März seinen 90. Geburtstag feiert, jährlich ein neues Buch vor. Diesmal einen Roman mit dem etwas sperrigen Titel "Statt etwas oder Der letzte Rank" (Rowohlt, € 17,50). Rank bedeutet im Alemannischen Kurve. So nimmt man etwa den letzten Rank vor einer Passhöhe – oder vor dem Abgrund. Das Wort bezeichnet laut dem Deutschen Wörterbuch der Grimms aber ebenso den Haken, den ein Gejagter schlägt.

Nicht zu fassen

Leicht zu fassen ist auch der 1927 am Bodensee geborene alemannische Dickschädel Martin Walser nicht. Politisch und literarisch hat er stets polarisiert, und während ihn die einen ob seines hohen Publikationsrhythmus für den Volkswagen unter den deutschen Schriftstellern halten, lesen ihn andere hartnäckig weiter.

Zu Recht, denn in den letzten Jahren war dieser Autor, der vor 60 Jahren mit "Ehen in Philippsburg" sein Romandebüt vorlegte, mit Büchern wie "Muttersohn" (2011) oder "Ein sterbender Mann" (2016) immer für Überraschungen gut. Vor allem, weil in seinem Spätwerk eine Entwicklung und die Veränderung eines Autors spürbar werden, dessen Weg von Außen nach Innen und vom Furor zur Gelassenheit führte.

"So nah am Rand der Formlosigkeit, ja so entfesselt hat Martin Walser noch nie geschrieben. Das fulminante Porträt eines Menschen, ein Roman, wie es noch keinen gab" kündigte der Rowohlt-Verlag nun Walsers neues Buch an. Auch von solcher Vorschau-Prosa Abgehärtete stimmen diese Sätze misstrauisch. Die Skepsis lässt sich nach der Lektüre nur teilweise ausräumen.

Der Ich-Erzähler in Walsers neuem Roman – und Romane sind für diesen Autor "Sachbücher der Seele" – ist namenlos beziehungsweise er hat viele Namen. Memele etwa oder Caro, dann wieder Otto und zuweilen Bert.

Er ist einer, der sich oft gewandelt hat, einer, der viele sein möchte und nun versucht, der zu werden, der er eigentlich ist. Dazu musste er, der lange im medialen "Wahrheitsgewerbe" tätig war, als erstes seine Ideologien und Theorien entsorgen und dem Rechthabenmüssen entsagen. Was sich – wie immer bei Walser, dessen Figuren sich oft selbst im Weg stehen – als schwierig erweist.

Der erste, im Verlauf des Romans leitmotivisch wiederholte Satz des Buches lautet: "Mir geht es ein bisschen zu gut." Dass es dem Erzähler, der ab und an ins Du des Selbstgespräches wechselt oder von sich in der Er-Form erzählt, nicht ganz gut geht, dafür sorgen die vielen Feinde, an die er sich erinnert. Zum Beispiel der "Feuilletongewaltige" oder ein anderer Medienmann, in dessen "Verantwortungsagenda" der Erzähler, ein Schriftsteller, steht.

Mit den Frauen

Zahlreiche aus Walsers Werk bekannte Motive wie Verrat, Heuchelei, "Bewusstseinsimperialismus" sowie politisch korrekter Opportunismus klingen in diesen Feindespassagen an. Doch es gibt in den 52 kurzen Kapiteln des Romans einen für Walser-Leser ebenfalls bekannten Gegenpol: die Frauen. Auch mit ihnen tut sich der Erzähler nicht leicht, zumal er alle Frauen der Welt liebt, was ihn, den in das "Feuerrad gefälschter Gefühle" Geflochtenen, oft in Teufels Küche bringt. Angereichert ist das alles mit irgendwelchen Liebesbegegnungen und feinen Traumgespinsten. Gott sei Dank, werden die Träume nicht gedeutet, denn das wäre, "als wollte man mit einem Schaufelbagger einen Schmetterling fangen".

All das hat man bei Walser schon gelesen, meist besser, wenn es um die immer wieder angedeuteten Selbstzweifel geht, etwa im Essay "Über Rechtfertigung, eine Versuchung" (2012). Zu selbstmitleidig und teilweise eitel ist dieser Erzähler zudem, als dass er einen trotz seiner Wortmächtigkeit auf Dauer für sich einnehmen könnte.

"Statt etwas oder Der letzte Rank" ist ein Roman über das Leben, seine Fülle und die Festlegungen, die es mit sich bringt. Es schwingt in ihm Flauberts Traum mit, ein Buch der reinen Innerlichkeit zu schreiben, ein Buch über nichts, ohne äußeren Anker. Ein Buch, "das sich von alleine halten würde durch die innere Kraft seines Stils". Diese Vorgaben erfüllt Walser nicht. Diesmal. (Stefan Gmünder, 4.1.2017)