Assassinen über den Dächern von Sevilla: Michael Fassbender und Ariane Labed sind sprung- und damit einsatzbereit.

Foto: 2016 Twentieth Century Fox and Ubisoft Motion

Wien – Was bedeutet es, ein Gefangener der eigenen Erinnerung zu sein? Wohin kann man fliehen, wenn die Gedanken an die Vergangenheit einen ständig verfolgen, doch der einzige Fluchtort einen immer wieder dorthin führt, woher diese Erinnerungen stammen? Dann ist man im eigenen Gedächtnis gelandet. Oder wie Callum Lynch (Michael Fassbender) in der Todeszelle.

Er solle unbedingt in der Erinnerung bleiben, ermahnt ihn wenig später eine junge Frau mit schwarzem Haar und weißem Kittel, die ihn von ebendort vor der Giftspritze gerettet hat. Sophia Rikkin (Marion Cotillard) hat als Wissenschafterin Callum als Proband ein zweites Leben geschenkt. Doch ihn nicht gefragt, ob er ein solches überhaupt wolle. Jetzt hängt er wie eine Marionette an einem überdimensionalen beweglichen Greifarm in einer riesigen Halle und droht diesmal tatsächlich zu sterben. Zweifach. In der Vergangenheit und in der Gegenwart.

Assassin's Creed – Trailer
20th Century Fox

Unfreiwilliges Zeitreisen

Assassin's Creed ist einer der ungewöhnlichsten und faszinierendsten Blockbuster des zu Ende gehenden Jahres. Ein Film, der die Welt des Spätmittelalters mit jener der Gegenwart durcheinanderwirbelt und neu zusammensetzt. Spielerisch und leicht und doch gehaltvoll und geistreich.

Denn dieser Mann, als personifizierte Gewalt alles andere als ein Sympathieträger, muss im Auftrag der Wissenschaft – die mit Jeremy Irons und Charlotte Rampling als Drahtzieher ein ganz anderes Ziel verfolgt als den Erkenntnisgewinn – immer wieder in die Vergangenheit reisen. Gegen seinen Willen und doch so oft, bis er schließlich selbst danach verlangt, weil er die Macht erkennt, die sich ihm dadurch eröffnet. Callum muss die Erinnerungen eines seiner Vorfahren durchleben, eines anderen Mörders, der sich im Spanien des Jahres 1492, im ersten Jahr der Zeitrechnung nach Cristóbal Colón, gegen die Reconquista stellte.

Kein Historienspektakel

Basierend auf der Idee des gleichnamigen populären Computerspiels, das einen als Spieler zu zahlreichen Handlungsorten und in ebenso viele Epochen schickt, geht Assassin's Creed für einen Film dieser Größenordnung ein hohes Risiko ein (und wurde mit überwiegend vernichtender Kritik eben dafür abgestraft): Er wahrt die Balance zwischen historischem Spektakel und ineinandergreifender Erzählung, zwischen ungebändigter Bewegung und auferlegter Starre, zwischen dem heißen Schauplatz einer Dächerlandschaft Südspaniens – gedreht auf Malta – und dem eines kühlgrauen Labors, dessen Patienten wie Callum nicht Gefangenen gleichen, sondern solche sind.

Die große Idee der Science-Fiction im Kino, dieses selbst als Gedächtnisort zu betrachten, als Ort der Offenbarung und der Hölle, sie läuft hier wie nebenbei, lebt von Chris Markers Klassiker La Jetée (1962) und Terry Gilliams Twelve Monkeys (1995) ebenso wie von den Berichten der unzähligen Zeitreisenden, die aus der Vergangenheit die Veränderung der Zukunft mit sich bringen.

Fragen der Gegenwart

Inszeniert vom Australier Justin Kurzel, der zuletzt – ebenfalls mit Fassbender und Cotillard in den Hauptrollen – Shakespeares Macbeth für die Leinwand adaptierte, ist Assassin's Creed kein hochgerechnetes Computerstück, sondern physisches Kino, das seine Erzählung mit einem Plädoyer gegen totalitären Konformismus unterfüttert. Nichts wäre einfacher, als mittels historischen Bogens nur darauf hinzuweisen, dass sich auf dieser Welt nichts ändert, weil sich angeblich die Menschen nicht ändern. Falsch.

Denn Assassin's Creed zeigt, indem er sein Gewicht eben auf die Gegenwart legt, während seine historischen Exkursionen wie kurzfristige Befreiungsschläge anmuten, dass Änderung nur für den möglich ist, der sie auch vorantreibt. Das religiöse Artefakt, das Callum als sein Vorfahr Aguilar de Nerha (Fassbender in einer Doppelrolle) nicht in die Hände der religiös geifernden Eiferer geraten lassen darf, es ist auch Sinnbild. Es beinhaltet die immerwährende Idee des freien Willens.

Von der Notwendigkeit, religiösem Fanatismus zu entkommen sowie der kulturellen und geistigen Zerstörung – hier ausgerechnet am Beispiel der aus Europa vertriebenen Mauren – entgegenzuwirken, davon erzählt Assassin's Creed wie beiläufig. Ob die Gewalt des Menschen zu seinem eigenen Untergang führt? Das ist keine Frage der Vergangenheit, sondern der Gegenwart. (Michael Pekler, 29.12.2016)