Usain Bolt beim 200-Meter-Vorlauf in Rio de Janeiro: Nicht zuletzt bei der Produktion von Sportkleidung bräuchte es die 3-D-Simulation von Mode.

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Linz – "Ein Kleidungsstoff ist ein wirklich schreckliches Material", scherzt Bernhard Zagar. "Sie können dasselbe Stück fünf Mal messen, etwa sein Dehnverhalten, und Sie werden fünf unterschiedliche Werte erhalten." Der Vorstand des Instituts für Elektrische Messtechnik an der Johannes-Kepler-Universität (JKU) in Linz entwickelt derzeit ein Messsystem, das gleichzeitig die Elastizität, das Dehnungsverhalten, die Reibung und das Flächengewicht von Kleidungsstoffen messen kann.

Die Anfrage dazu kam von Christiane Luible-Bär von der Abteilung für Fashion & Technology an der Kunstuniversität Linz. Seit mehr als 15 Jahren beschäftigt sich die Professorin für Modedesign an der Haute école d'art et de design (HEAD) in Genf mit der 3-D-Simulation von Mode. Als Branchenkennerin sieht sie dringenden Aufholbedarf: "Von der Architektur bis hin zum Maschinenbau laufen in nahezu allen Branchen die Planungsprozesse digital ab – nur im Modedesign hinken wir hinterher, da viele Parameter nicht einbezogen werden können", so Luible-Bär.

Ein äußerst inhomogenes Material

Die Ursache dafür liegt im Arbeitsmaterial selbst, denn Textil für Kleidung ist ein äußerst inhomogenes Material und aufgrund seines komplexen Verhaltens besonders schwierig zu berechnen. Eine verlässliche Simulation wäre beim derzeitigen Boom von Funktionsbekleidung allerdings für eine effiziente Produktion nötig. Vor allem Firmen für Sportkleidung brauchen 3-D-Simulationen, um teure Muster der Bekleidung schneller und günstiger herzustellen. Für eine realistische Bewertung des Endproduktes sei es aber immer noch notwendig, mindestens einen Prototypen des Kleidungsstücks zu nähen.

Produktion der Prototypen

"Das verzögert sämtliche Entscheidungsprozesse. Außerdem werden die Prototypen oft in Billiglohnländern unter schlechten Bedingungen gefertigt", kritisiert Luible-Bär. Um Simulationen gestalten zu können, bedarf es genauerer mechanischer Parameter des verwendeten Stoffs. Je detaillierter die Daten dabei sind, desto eher können Simulationen in Zukunft reale Prototypen ersetzen.

Das System, das an der Kepler-Uni entwickelt wird, soll daher selbst schwierig zu ermittelnde Stoffparameter exakt eruieren, um sie dann ins Simulationssystem einzuspeisen. Erste Erfolge brachte dabei eine im September fertiggestellte Masterarbeit zum Biegeverhalten von Stoffen, das vor allem für den Faltenwurf ausschlaggebend ist. "Dazu wird ein Stück Stoff über eine Kante geschoben und geprüft, ab wann sich das Textil nur durch sein Eigengewicht biegt", erklärt Zagar die Vorgehensweise. Währenddessen schießt eine Kamera Seitenaufnahmen des Stoffs, auf den eine Laserlinie projiziert wird.

Mittels digitaler Bildanalyse lässt sich die Biegelinie bestimmen, von dieser kann wiederum auf die Biegesteifigkeit des jeweiligen Textils zurückgerechnet werden. Modedesigner könnten damit festlegen, wo die Falte einer Anzugshose sitzen soll oder wie ein Faltenrock gefertigt werden muss, um locker um den Körper zu fallen. "Die Biegesteifigkeit ist eine zähe Sache", geht Zagar ins Detail, denn auch das Verwebungsmuster spielt hier eine zentrale Rolle. Je nachdem, ob es sich um einen Längs- oder einen Querfaden handelt, zeigt das verwendete Material unterschiedliche Eigenschaften. So handelt es sich etwa bei Satin um keine spezielle Textilart. Durch die spezielle Anordnung der Fäden ergibt sich dann eine völlig andere Elastizität und Zugsteifigkeit als bei klassisch gewobenen Stoffen. "All diese Eigenheiten müssen wir berücksichtigen, um sie schließlich in ein System einzubringen, das alle Charakteristika von Textilien zuverlässig vermisst", sagt der Institutsleiter.

Charakter des Gewebes

Der Aufbau der Messmaschine für die Gewebecharakterisierung ist Gegenstand einer laufenden Masterarbeit am Institut für Messtechnik. Im Vorfeld wurden dazu Bewegungsdaten von Athletinnen und Athleten beim Sport aufgezeichnet und auf einen virtuellen Avatar umgelegt. "So wissen wir genau, wie viel, wie oft und wie schnell der Stoff an einzelnen Körperstellen bewegt wird", sagt Luible-Bär. Dadurch kann die Eignung verschiedener Materialien für ein bestimmtes Kleidungsstück, etwa eine an den Knien belastete Laufhose, getestet werden.

Da gerade Funktions- und Sportbekleidung meist aus mehreren Stoffschichten mit jeweils unterschiedlichen Eigenschaften besteht, muss auch geklärt werden, wie sich diese Schichten in Kombination verhalten. Im Mittelpunkt stehen dabei der Reibungskoeffizient und das Zugverhalten: In Kombination bestimmen diese Parameter, wie sich verschiedene Stoffarten beeinflussen, aber auch, wie sich Stoffe auf der Haut verhalten. Doch nicht nur verschiedene Materialien beeinflussen sich wechselseitig, auch die Haut – etwa trocken oder verschwitzt – verändert die Reibung. "Dass eine Socke an der Ferse anliegt, ohne die Haut aufzureiben, ist schon ein kleines Kunststück", meint Zagar.

Abstimmung des Prototyps

Der Prototyp des Messgeräts wird an der Kepler-Universität nun auch in puncto Nutzerfreundlichkeit auf die Bedürfnisse der Modebranche abgestimmt. "Das Gerät muss einfach zu bedienen sein, schließlich sind Modeleute bisher nicht als besonders technikaffin bekannt", gibt Luible-Bär zu. Da am Modesektor zudem an allen Ecken und Enden gespart wird, sollte die Maschine am Markt nicht mehr als 5.000 Euro kosten.

Bis das gesamte Messsystem fertig und reif für die Massenproduktion ist, wird es zwar noch ein Jahr dauern, die Modewelt hat dennoch schon reges Interesse bekundet. Anfragen zweier namhafter Unternehmen aus dem Mode- und dem Sportbereich liegen schon jetzt auf Christiane Luible-Bärs Schreibtisch. (Marlene Erhart, 1.1.2017)