Christine Maieron-Coloni, hier in einer Beratungssituation, sagt: "Trauer und Schuldgefühle sind etwas Zentrales."

Foto: Caritas Wien

Bild nicht mehr verfügbar.

Die Betreuung Demenzkranker wird schleichend intensiver: Zuerst gehe es oft nur um Alltagstätigkeiten, sagt Maieron-Coloni.

Foto: Reuters/Regis Duvignau

Christine Maieron-Coloni ist Psychotherapeutin und seit sechs Jahren für die psychosoziale Angehörigenberatung der Caritas Wien tätig, die es seit 2003 gibt. Dort werden kostenlose Einzel- und Gruppenstunden angeboten. Voriges Jahr hat Maieron-Coloni gemeinsam mit einer klinischen Gesundheitspsychologin 425 pflegende Angehörige beraten. Im STANDARD-Gespräch sagt die 48-Jährige, dass sie Pflegenden eine Gelegenheit geben will, über Gefühle wie Trauer, Wut und Schuldgefühle – die oft vorhanden seien – zu sprechen.

STANDARD: Mit welchen Problemen kommen pflegende Angehörige zur psychosozialen Beratung?

Maieron-Coloni: Das ist sehr unterschiedlich. Ein Schwerpunkt liegt bei uns auf der Beratung von Angehörigen von Menschen mit Demenz – das sind etwa 70 Prozent. Manchmal melden sich Leute, die bemerken, mein Mann, meine Frau, meine Mutter ist verändert, kommt allein nicht mehr zurecht. Dann schauen wir uns die gesamte Situation genau miteinander an. Aber es kommen auch Menschen, die schon jahrelang zu Hause jemanden betreuen, ohne Unterstützung. Sie sind oft total ausgebrannt. Manche sagen am Telefon: Ich war wochenlang nicht außer Haus. Ich kann meinen Partner nicht alleinlassen.

STANDARD: Ist die Zeit um Weihnachten und Silvester besonders schwierig?

Maieron-Coloni: Gerade um Weihnachten funktioniert das familiäre Netz oft noch ganz gut. Da kommen dann die Enkelkinder und Kinder und helfen mit. Eher tut sich nach Weihnachten ein Loch auf, wenn die Unterstützung wieder wegfällt.

STANDARD: Besonders belastend ist also das permanente Gebrauchtwerden?

Maieron-Coloni: Ja. Man wird tagtäglich gebraucht, muss tagtäglich mit der Trauer darüber zurechtkommen, dass der Partner nicht mehr der ist, der er war. Da kann große Wut aufkommen.

STANDARD: Aufseiten Betreuender?

Maieron-Coloni: Ja, aufgrund der Überforderungen und aufgrund dessen, dass einem der Partner abhandengekommen ist. Aber auch aufseiten der Kranken: Gerade bei Demenz geht es in beide Richtungen. Man muss sich vorstellen, wenn ein Mensch zunehmend Sachen verliert, verlegt, nicht nach Hause findet und jemand anderer ihm ständig sagt, mach das so und das so, dann taucht beim Kranken oft Wut auf und die Tendenz, nahe Familienmitglieder zu beschuldigen: Du hast das versteckt, du hast mir Geld gestohlen. Das ist ein psychischer Abwehrmechanismus und eine Quelle stetigen Konflikts.

STANDARD: Was können Sie dann konkret für Pflegende tun?

Maieron-Coloni: Wir stellen uns als Vertrauenspersonen zur Verfügung und wollen den Angehörigen Wertschätzung für alles, was sie tun, entgegenbringen. Wir bieten eine Gelegenheit, über die Gefühle – Traurigkeit, Schuldgefühle, Wut – sprechen zu können. Was wir auch nicht außer Acht lassen, sind Informationen über die jeweilige Erkrankung. Gerade bei Demenz ist es wichtig zu verstehen, was sich abspielt. Viele kommen und glauben, ihre erkrankten Angehörigen mögen sie nicht mehr. Information kann nachhaltig etwas ändern, da Menschen dann in den Trauerprozess gehen können und beginnen zu verstehen, warum die Erkrankten so reagieren.

STANDARD: Oft pflegen Frauen. Kommen Männer auch zu Ihnen?

Maieron-Coloni: Fast ein Viertel sind Männer. Viele Männer pflegen sehr liebevoll ihre Frau.

STANDARD: Aber es pflegen einander ja nicht nur Lebenspartner?

Maieron-Coloni: Aus unserer letzten Statistik geht hervor, dass 36 Prozent, die zu uns kommen, Töchter sind, 23 Prozent Ehepartnerinnen, acht Prozent Ehepartner, zehn Prozent Söhne, vier Prozent Schwiegertöchter und dann noch diverse Angehörige. Die Leute sind unterschiedlichen Alters: Zuletzt habe ich ein siebenjähriges Kind gesehen, das Betreuungsaufgaben für die Oma übernimmt.

STANDARD: Sie haben die starke Isolation Pflegender angesprochen. Wie kommt es so weit?

Maieron-Coloni: Gerade bei demenziellen Erkrankungen ist es oft ein jahrelanger, schleichender Prozess. Zuerst hilft man gelegentlich im Alltag, am Ende muss man die Inkontinenz versorgen. Lange denken sich Betreuende: Das schaff ich schon. Aber dann finden sie sich irgendwann in der Situation wieder, dass sie den anderen gar nicht alleinlassen können. Sie verlieren Freundschaften oder hören mit Aktivitäten auf, um die Pflege bewältigen zu können. Es entstehen Schuldgefühle: Pflegende Angehörige gönnen sich selbst immer weniger vor lauter schlechtem Gewissen dem Erkrankten gegenüber. Das kann zu depressiven Entwicklungen führen und sich so zuspitzen, dass Suizidgedanken im Raum stehen.

STANDARD: Werden deshalb selten Auszeiten genommen?

Maieron-Coloni: Trauer und Schuldgefühle sind etwas ganz Zentrales. Es ist oft psychisch nicht möglich zu sagen: Ich mache jetzt eine kleine Reise, und mein Mann wird inzwischen anderweitig versorgt. Das bedeutet meist mehr Stress als Erholung.

STANDARD: Wie kommen pflegende Angehörige aus der Isolation?

Maieron-Coloni: Neben den klassischen mobilen Diensten sind gerade bei Demenz Tageszentren sehr hilfreich, da sie den Erkrankten eine Tagesstruktur und Kontakte bieten. Die Isolation betrifft ja auch die erkrankten Menschen.

STANDARD: Was kann das familiäre Umfeld, so eines da ist, tun?

Maieron-Coloni: Wo familiäre Netze bestehen, ist es günstig, wenn sich die Kindergeneration einbringt. Aber die sind oft berufstätig, haben Kinder zu versorgen und nicht die Kapazität, sich über die Maßen einzubringen. Sollen Kinder Eltern pflegen, gibt es auch wichtige psychische Aspekte: Auch wer erwachsen ist, hat immer das aus der Kindheit resultierende Bild des starken Vaters, der starken Mutter vor Augen. Hier hilft professionelle Beratung über die Rollenumkehr in der Pflege.

STANDARD: Gibt es genug Angebote?

Maieron-Coloni: Es bräuchte dringend mehr stundenweise Entlastungsdienste für zu Hause. Wenn es darum geht, dass jemand für ein paar Stunden einfach da ist, da der Mensch nicht mehr alleingelassen werden kann – da gibt es großen Bedarf im ländlichen Raum, in Wien sieht die Situation besser aus. Ganz generell: Pflege- und Betreuungssituationen sind so verschieden wie Menschen. Pflegende Angehörige erweisen der Gesellschaft einen Riesendienst, daher braucht es eine Vielzahl leistbarer Angebote. (Gudrun Springer, 27.12.2016)