Sylvia Köchl
"Das Bedürfnis nach gerechter Sühne"

Wege von "Berufsverbrecherinnen" in das Konzentrationslager Ravensbrück
Mandelbaum-Verlag 2016
360 Seiten, 24,90 Euro

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Sylvia Köchl rekonstruiert in ihrem Buch die Biografien von acht Frauen, die als "Berufsverbrecherinnen" ins Frauen-KZ Ravensbrück deportiert wurden.

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STANDARD: Was hat Sie dazu bewogen, sich der Geschichte der sogenannten Berufsverbrecherinnen im Frauen-KZ Ravensbrück zu widmen?

Sylvia Köchl: Die Vorgeschichte zu meinem Buch beginnt Mitte der 1990er-Jahre, als ich der Lagergemeinschaft Ravensbrück beigetreten bin. Die dort organisierten Überlebenden – überwiegend ehemals politische Häftlinge – haben zu dieser Zeit beschlossen, auch junge, antifaschistisch aktive Frauen in den Verein aufzunehmen. Von uns jungen Frauen haben sie sich dann konkrete Projekte gewünscht. Im Zuge der Arbeit an einer Ausstellung haben wir schließlich danach zu fragen begonnen, warum bestimmte Opfergruppen innerhalb der Lagergemeinschaft unterrepräsentiert oder überhaupt nicht sichtbar waren. Das betraf nicht nur "Berufsverbrecherinnen", sondern auch sogenannte Asoziale, auch der Kontakt zu Roma- und Sinti-Frauen war eher lose. Uns ist zunehmend bewusst geworden, wie wichtig es wäre, Frauen aus allen verfolgten Gruppen kennenzulernen. Schon bei den "Asozialen" stellte sich das als äußerst schwierig heraus, obwohl sie eine vergleichsweise große Gruppe unter den KZ-Häftlingen darstellten. Einige Jahre später konnten wir im Rahmen einer Überarbeitung der Ausstellung zumindest die Geschichte einer als Berufsverbrecherin in Ravensbrück inhaftierten Frau mithilfe von Gerichtsakten erzählen. Für mich war danach klar, dass ich weiter an diesem Thema arbeiten möchte.

STANDARD: Ihr Buch rekonstruiert die Biografien acht betroffener Frauen. Dafür mussten Sie auf Gerichtsakten und anderes Quellenmaterial zurückgreifen, da Ihnen keine Selbstzeugnisse der Opfer zur Verfügung standen. Warum fehlen diese?

Köchl: Es ist nicht ausgeschlossen, dass es solche Selbstzeugnisse gibt, aber mir sind bisher keine bekannt. Viele Opfer haben nach ihrer Befreiung die Geschichte ihrer KZ-Haft aufgeschrieben, weil ihnen bewusst war, wie wichtig ihre Zeuginnenschaft ist. Es ist also möglich, dass dies auch sogenannte Berufsverbrecherinnen getan haben. Man muss die Hoffnung nicht völlig aufgeben, dass eines Tages ein solches Manuskript auftaucht und unser Wissen über diese verfolgte Gruppe bereichert. Das meiste Wissen, das wir über Konzentrationslager haben, stammt schließlich von Überlebenden. Klar ist, dass sich nur bestimmte Opfergruppen nach dem Ende des nationalsozialistischen Terrorregimes organisierten, um Anerkennung kämpften und somit auch die Formen der Aufklärung, des Erinnerns und Gedenkens prägten. "Asoziale" und "Berufsverbrecherinnen" waren überwiegend unterprivilegierte Frauen mit wenig ökonomischem Freiraum. Vorbehalte gegen diese Menschen blieben auch nach 1945 bestehen, eine Selbstorganisierung und ein selbstbewusstes Auftreten hätten wohl eine unglaubliche Kraftanstrengung bedeutet. Auch eine Anerkennung durch den Staat passierte nicht. In Deutschland existierte vorübergehend eine Initiative, die sich "Schicksalsgemeinschaft der Vergessenen" nannte – dieser Name ist bereits vielsagend.

STANDARD: Aktivistinnen der Zweiten Frauenbewegung in Österreich und Deutschland setzten sich intensiv mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinander. Interessierten sie sich für die "vergessenen" Opfergruppen?

Köchl: Die zu dieser Zeit aufkommende Frauengeschichtsbewegung hat wichtige Grundlagenarbeit geleistet. Aktivistinnen rückten Themen in den Fokus, die die (Männer-)Geschichtsschreibung ignoriert hatte. Ingrid Strobl arbeitete beispielsweise zum bewaffneten Widerstandskampf von Jüdinnen, es entstanden unzählige spannende Bücher und Filme. Aus nachvollziehbaren Gründen weckten allerdings besonders Widerstandskämpferinnen, starke weibliche Vorbilder ihr Interesse. Es wäre rückblickend auch der passende Zeitpunkt gewesen, um Überlebende aus anderen Opfergruppen aufzuspüren und Interviews mit ihnen zu führen. Ich will das keineswegs als Vorwurf formulieren, aber es sind dadurch eben große Lücken entstanden, die mittlerweile nicht mehr geschlossen werden können.

STANDARD: In Ihrem Buch erzählen Sie von einem bedrückenden Erlebnis einer Frau, der Enkelin der im KZ Ravensbrück als "Asoziale" ermordeten Anna Lasser. Bei einer Befreiungsfeier wollte sie von einem Aktivisten einen schwarzen Winkel, die Kennzeichnung dieser Häftlingsgruppe, kaufen, woraufhin dieser empört reagierte: Wer wolle schon einen schwarzen und keinen roten Winkel – das Zeichen der "Politischen" – tragen. Gab und gibt es auch Vorbehalte (ehemaliger) politischer KZ-Häftlinge den sogenannten Asozialen und Berufsverbrecherinnen gegenüber?

Köchl: In der Literatur zum KZ Ravensbrück ist mir immer wieder aufgefallen, dass in diesen Büchern häufig abfällig über die "grünwinkligen" Berufsverbrecherinnen gesprochen wird. Die pauschale Ablehnung dieser Frauen, die als anders oder gefährlich angesehen wurden, ist ein auffälliges Muster in den meisten Texten ehemaliger politischer Häftlinge. Diesen Umstand muss man natürlich in seinem Kontext betrachten. Die Botschaft der NationalsozialistInnen war stets, dass in den Konzentrationslagern Verbrecher und Verbrecherinnen inhaftiert sind. Dieses Gerede endete 1945 nicht, auch Widerstandskämpferinnen wurden mit Vorurteilen und Ablehnung konfrontiert. Meine These ist, dass diese versuchten, sich von den "wirklichen" VerbrecherInnen abzugrenzen, während sie um ihre eigene Anerkennung kämpften.

STANDARD: Die im Buch beschriebenen Frauen wurden als Diebinnen und Abtreiberinnen im KZ Ravensbrück in "Vorbeugungshaft" genommen. Warum galten sie den Nazis als gefährlich?

Köchl: Grundsätzlich waren von der "vorbeugenden" Verbrechensbekämpfung der Nazis hauptsächlich Männer betroffen – Kriminalität war und ist letztendlich ein überwiegend männliches Phänomen. Der Diebstahl stellte für die NationalsozialistInnen das Kernproblem des sogenannten Berufsverbrechertums dar. Würden diese gewerbsmäßigen DiebInnen weggesperrt, so würde man eine verbrechensfreie Gesellschaft schaffen – so die Idee der Nazis. Abtreibungen an deutschen Frauen hingegen kamen fast einem Kapitalverbrechen gleich. Hier war nicht nur die Kripo zuständig, sondern auch die Gestapo wurde aktiv. Aus Antworten auf Gnadengesuche lässt sich eine deutliche Härte dem Delikt gegenüber feststellen. Beim Studium der Gerichtsakten habe ich außerdem den Eindruck gewonnen, dass trotz des gesetzlichen Verbots ein weitverbreitetes Wissen über Abtreibung und illegale AbtreiberInnen in der Bevölkerung existierte. Abtreibungen wurden mithilfe mechanischer Methoden auf dem sprichwörtlichen Küchentisch durchgeführt – und endeten für manche Frauen tödlich. Hier gäbe es viele Anknüpfungspunkte für weitere Forschung.

STANDARD: Das letzte Kapitel Ihres Buchs widmet sich dem Opferfürsorgegesetz der Republik Österreich, das bestimmte Gruppen ausschließt. Warum ist eine Gesetzesänderung auch im Jahr 2016 noch eine Ihrer zentralen Forderungen?

Köchl: Ehemalige KZ-Häftlinge, die Eigentumsdelikte begangen haben, sind von vornherein von den Leistungen der Opferfürsorge ausgeschlossen. Ihnen wird pauschal eine "missbräuchliche Verwendung" unterstellt. Im Fall einer Abtreibung ist dem entsprechenden Erlass zu entnehmen, dass eine Einzelfallprüfung vorzunehmen ist. Ich finde es ungeheuerlich, dass der Staat diese Opfer des nationalsozialistischen Terrorregimes nicht anerkennt. Eine Gesetzesänderung ist daher mehr als angebracht, auch wenn diese wohl nur noch symbolisch wirken kann, da es nur noch wenige Überlebende gibt. Aber somit würden auch die Familien der Opfer Anerkennung erfahren, und der erste Schritt wäre getan, um dem Schweigen und der Scham endlich ein Ende zu setzen. (Brigitte Theißl, 4.1.2017)