Das Kunstprojekt "No pain no game" der Kölner Künstler Volker Morawe und Tilman Reiff stellt die Vernetzung via Internet dar. Für Patienten könnten soziale Netzwerke zunehmend wichtige Tools werden.

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Es gibt kein sensibleres Thema als Krankheitsdaten. Insofern scheint die Frage, ob soziale Medien hier Vorteile bringen könnten, erst einmal vollkommen falsch zu sein. Wer würde schon Details zu seinem persönlichen Gesundheitszustand preisgeben, ohne zu wissen, wer sie lesen wird. Auch Jennifer Ahlstrom hätte das wohl so gesehen, bis zum dem Zeitpunkt, als ihr ein Hämatologe in Salt Lake City die Diagnose Multiples Myelom gestellt hat.

Es ist eine schwere Erkrankung des blutbildenden Systems, das Knochenmark produziert plötzlich maligne Plasmazellen, die wiederum Antikörper produzieren und körpereigene Strukturen angreifen. Es gibt unterschiedliche Arten von Multiplen Myelomen – mit unterschiedlicher Aggressivität. Mitunter ist auch Abwarten und Beobachten eine Option.

Die gute Nachricht: Bei keiner anderen Erkrankung des blutbildenden Systems wurden in den letzten Jahren so viele Fortschritte wie beim Multiplen Myelom gemacht. Auf der Hämatologenkonferenz Ash Anfang Dezember in San Diego brachte es der US-Hämatologe Philip McCarthy vom Roswell Park Cancer Institute in Buffalo sehr treffend auf den Punkt: "Wenn es um Medikamente beim Multiplen Myelom ging, dann hatten wir jahrelang das Gefühl, wir würden auf ein Taxi warten, das nicht kommt. Jetzt ist es so, dass fünf unterschiedliche Taxis vor uns stehen und wir entscheiden müssen, welches wir nehmen sollen."

Mündige Patienten

Genau das brachte Jennifer Ahlstrom auch ins Dilemma. Als informierte Patienten wollte sie die bestmögliche Behandlung und interessierte sich in diesem Zusammenhang für laufende klinische Studien. Sie kannte clinicaltrials.gov, jene Website, auf der laufende Studien samt Studienziel, Studienleiter und -klinik abrufbar sind. Es sind Texte von und für Mediziner. Unverständlich für Patienten wie Ahlstrom, deren Überleben unter Umständen davon abhängen kann. Ahlstrom wollte sämtliche Behandlungsmöglichkeiten für sich ausschöpfen. Sie schrieb acht Studienzentren an, um sich nach den Kriterien für eine Teilnahme zu erkundigen. Nur zwei antworteten.

Das empfand Ahlstrom als frustrierend. Sie gründete eine Kommunikationsplattform namens Myeloma Crowd. Führte Interviews mit den Ärzten, die die Studien leiteten, um sich selbst und damit auch allen anderen klarzumachen, wer Chancen hat, aufgenommen zu werden, weil er die Kriterien erfüllt. Ahlstrom publiziert ihre Interviews auf einer Website, News zu gewissen Themen postet sie auf Twitter. So hat sie über die vergangenen Monate ein hoch engagiertes Kollektiv von an Myelom-Interessierten versammeln können.

Vorteile für Mediziner

Die Vorteile gibt es auf allen Seiten: für medizinische Laien, weil sie plötzlich über den letzten Forschungsstand Bescheid wissen, und für Ärzte, die ja stets in Alter und Krankheitsstadium passende Teilnehmer rekrutieren müssen. Irene Ghobrial, Ärztin am Dana-Faber Cancer Institute in Boston und in die Organisation von Studien maßgeblich involviert, hat über #pcrowd Patienten gefunden, die den Einschlusskriterien entsprachen.

"Über soziale Medien konnten wir Patienten erreichen und sie dazu bringen, uns ihre Blutsamples zu schicken – diese genaue Rekrutierung verbessert die Qualität klinischer Studien enorm", kann sie berichten und meint damit ein großes Patientenpool. Myelom-Interessierte schicken sich Neuigkeiten via Twitter.

Engagement sei, wenn es um Erforschung von Erkrankungen geht, enorm wichtig," ist Ghobrial überzeugt und meint Ärzte genauso wie Patienten. Mit Patienten mit Multiplen Myelomen habe man nur beste Erfahrungen gemacht. "Es ist nicht so, dass Patienten soziale Medien plötzlich als Auskunftstool verstehen."

Recherche via Twitter

Michael Thompson, Phd am Aurora Health Cancer Center in Wisconsin, ist davon überzeugt, dass Twitter ein geeignetes Tool ist, um News zu ganz spezifischen Themen zu verbreiten. Etwa genau, wenn es um Studien und Diagnosen geht. Wer am richtigen Hashtag hängt, bekommt durch die ständig wachsende Community für die eigenen Bedürfnisse maßgeschneiderte Informationen, Forscher wie Patienten gleichermaßen. Bei der Flut von produzierten wissenschaftlichen Erkenntnissen wird Twitter ein effizientes Recherchetool.

Es gibt Vorbehalte: zum Beispiel jenen, dass dadurch künstliches Interesse oder falsche Hoffnungen generiert werden könnten. Joseph Mikhael vom Mayo Clinic Cancer Center kann das entkräften. Gut informierte Twitter-User bekämen sehr schnell ein Gefühl für die Relevanz von Informationen und lassen sich damit weniger leicht manipulieren. "Deshalb funktioniert auch die Promotion von Medikamenten auf diese Weise nicht", berichtet Twitter-Spezialist Thompson. Pharmazeutische Firmen könnten aber über Twitter-Gruppen Einblick in eine Community bekommen "und sehen, was die Patienten und Mediziner bewegt", so Thomsen.

"Soziale Medien sind für uns Ärzte eine neue Zugangsmöglichkeit zu Patienten, es ist einfach nicht mehr genug, einen Studienaufruf auf irgendeiner Website im Internet zu posten", sagt Hämatologe Joseph Michael, "über soziale Medien erreichen wir neue Zielgruppen." Menschen dort abzuholen, wo sie umtriebig sind, sei ein Fortschritt. (Karin Pollack, 22.12.2016)