Wien – Sieben Jahre war Prairie verschwunden. Von einem Tag auf den anderen gab es nicht die geringste Spur, keinen Hinweis, wo das blinde Mädchen sein könnte. Prairie war einfach weg, der Schmerz der Eltern unendlich groß. Die Ungewissheit über das Schicksal ihres Adoptivkindes versetzte sie in jahrelange Schockstarre. Und eines Tages, so plötzlich, wie sie weg war, steht Prairie wieder da. Eine junge Frau ist sie jetzt, und noch etwas hat sich geändert: Prairie kann sehen.

Foto: Netflix

Die Ausgangslage in der Netflix-Serie "The OA" ist mysteriös und bleibt es. Über die Herkunft der hässlichen Narben an ihren Füßen erfahren wir zunächst nichts. Aber erzählen will sie – und zwar alles. Als Zuhörer auserwählt hat Prairie eine Gruppe Halbstarker, die aus Langeweile ihr Umfeld schikaniert. Ihnen muss geholfen werden: "Ich denke, wir alle sind gestorben, öfter, als ich zählen kann", sagt Prairie, und die Burschen hören aufmerksam hin. Nicht nur sie.

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Drei Jahre arbeiteten die Autorin und Prairie-Darstellerin Brit Marling und der Regisseur Zat Batmanglij an der Serie, in der es um gegenwärtige Lebenslagen Jugendlicher geht in einem Land, das den vielzitierten amerikanischen Traum nur noch vom Hörensagen kennt. "Wir wollten herausfinden, was es bedeutet, heute ein junger Mensch zu sein", sagt Marling im Gespräch mit dem STANDARD. In der Vorbereitung zur Serie bereisten sie und Batmanglij mehrere US-Bundesstaaten, besuchten in Illinois, Pennsylvania und Ohio Highschools und hörten sich unter den Schülern um: "Durch die sozialen Medien sind scheinbar alle miteinander verbunden, aber die Kids fühlen sich abgekoppelter denn je."

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Prairies unmögliche Erfahrung könnte für die jungen Männer hilfreich sein, denn sie wehrt sich. Den Ärzten in der Klinik misstraut sie ebenso wie ihren Eltern, die das traumatisierte Kind aus Sorge und Ahnungslosigkeit früh von Psychopharmaka abhängig machten und sie jetzt aus denselben Gründen von sozialen Medien fernhalten wollen. Aufhalten lässt sich die junge Frau nicht.

In Rückblenden spricht Prairie zuerst von ihrer Zeit vor der Adoption. Ihr russischer Vater erzieht sie mit Liebe und Härte, Gegensätze, denen Marling viel abgewinnen kann und die sie aus russischen Märchen schätzt: "Weil es nicht diese strikte Trennung zwischen Gut und Böse gibt. Ich mag die Komplexität und die Grautöne." Der Vater zeige Prairie, wie schwierig es sei zu überleben: "Daraus entwickelte sie eine innere Stärke."

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Die Serie vergleicht Marling mit einer russischen Matrjoschka: "In einer Puppe steckt eine weitere – das ist die Struktur der Erzählung, die auf die nächste verweist." Dass Marling die Hauptrolle übernehmen würde, stand von Anfang an fest. "Die Story ist so speziell und absolut. Bei solchen Formaten gibt es üblicherweise Showrunner, Autoren, Regisseure, viele Stimmen melden sich zu Wort und beeinflussen das Ergebnis. Wir wollten die Kontrolle behalten." Die Arbeit an der Serie beschreibt sie als das "mit Abstand Schwierigste, das ich jemals getan habe".

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Mit Batmanglij arbeitet sie seit dem Independent-Thriller Sound of My Voice eng zusammen. Ihre eigene Herkunft entspricht sinnbildlich jener der blinden, jetzt sehenden Prairie: Marling studierte Wirtschaft, arbeitete in einer Bank, jonglierte täglich mit Zahlen "bis Mitternacht, auch samstags". Bis ihr in einem kurzen, aber umso einprägsameren Moment "bewusst wurde, was ich da tue und dass ich ganz schnell hier rausmusste". Marling kündigte, ging nach L.A. und landete in der Filmszene. 2004 schrieb sie ihren ersten Kurzfilm, 2011 entstand mit Mike Cahill das Science-Fiction-Drama Another Earth: "Ich war plötzlich aufgeregt, am Leben zu sein." (Doris Priesching, 21.12.2016)