Es gibt da einen kleinen großen Unterschied: Wenn wir bei Temperaturen um den Gefrierpunkt freudestrahlend durch die Stadt, den Wald oder die Gegend hirschen, ist das Spaß: Wir wissen, dass das Frösteln am Anfang dazu gehört. Wir wissen, dass wir auch mit wenig genug anhaben. Wir wissen, mit welcher Folie und mit welchem Funktionstextil wir uns gegen das, was uns die Umwelt entgegenschmeißt, optimal schützen – solange wir uns bewegen. Und wir wissen, dass es im urbanen Raum unangenehm, aber kaum je gefährlich ist, wenn wir einen – den – Fehler machen: Stehenbleiben – und nassgeschwitzt auskühlen.

Denn wir wissen, dass wir an einen zentralen Punkt keine Sekunde denken müssen: Wir kommen wieder rein. Ins Warme. Ins Trockene. Ins Saubere. Nachher. Und genau das macht den Unterschied aus: Wir sind nämlich freiwillig da draußen.

Thomas Rottenberg

Nur: Das sind nicht alle. Auch in einer reichen, wohlhabenden und gut organisierten Stadt wie Wien nicht. Und man muss nicht einmal die klassischen Trampel-, Lauf- und und Spazierpfade verlassen, um die zu sehen, die nicht freiwillig draußen sind. Die "Outdoor" nicht aus Abenteuerlust, Spaß an der Freude oder um sich selbst zu spüren, leben. Die nicht nach ein, zwei oder drei Stunden im Freien nach Hause kommen, sich aus kaltnassdreckigem Zeug schälen – und in der Dusche auf maximale Wassertemperatur drehen.

Es gibt diese Menschen. Und auch wenn wir gelernt haben, sie im Alltag zu übersehen, wenn wir längst und ausnahmslos Profis im selektiven Wahrnehmen sind, wenn wir uns mit 1001 Erklärungen, warum jemand der – mutmaßlich – selbstverschuldet, verdreckt, ungepflegt, übelriechend und ohne Manieren in unsere Komfortzone eindringt, weniger Empathie verdient, als eine verletzte Flugratte, sind sie da. Und es gibt eine Zeit, in der Wegschauen nicht gilt: Den Winter.

Foto: Thomas Rottenberg

Natürlich: Wer will, der findet – zumindest in Wien – im Winter Obdach. Gruft, Notschlafstellen, Vinzirast & Co – das Netz ist relativ dicht. Trotzdem gibt es Menschen, die diese Angebote nicht annehmen wollen. Oder können. Aus welchen Gründen auch immer. Und während das im Sommer ziemlich wurscht und irgendwie eine Art Privatspaß ist, ist es im Winter halt ein bisserl anders. Und deshalb habe ich mir angewöhnt, im Winter dort, wo ich auf Zelte, Verschläge oder unter Brücken schlafende Menschen stoße, genau zu schauen. Eventuell stehen zu bleiben. Eine Frage zu stellen. Und dann – gleich oder später – eventuell zum Telefon zu greifen. Aber dazu später.

Foto: Thomas Rottenberg

Dass mitten in Wien Menschen in Zelten, in Verschlägen aus Holz und Plastikfolien leben, hätte ich früher selbst nicht geglaubt. Aber seit mich meine Laufrunden mitunter auch "off the beaten tracks" führen, habe ich gelernt, wo und wie ich schauen muss: Unter Brücken – eh klar. Aber gerne auch in den "Zwickeln" und toten Winkeln, zwischen den Stadtautobahnen und den Flüssen und Kanälen. Im Niemandsland unter und bei den Auf- und Abfahrten der Schnellstraßen auf die Donaubrücken. Im Hinter- und Buschland der Donauinsel. Im unteren Prater. In der Lobau. Und so weiter. Wer einmal sehen gelernt hat, der findet.

Foto: Thomas Rottenberg

Wenn Sie die 20 Kilometer der Donauinsel alleine hinunterlaufen, werden Sie höchstens dieses Zelt sehen. Vielleicht ein paar Punks, die in der Nähe der U-Bahn-Brücken abhängen. Und – wenn sie dann beim nächsten Mal und wenn die Punks tagsüber weg sind – genau dort ein bisserl genauer schauen, werden Sie vielleicht bemerken, dass ein paar der Müllsäcke im Gebüsch gar keine illegal entsorgten Müllsäcke sind – sondern, dass hier Menschen ihr Hab und Gut bunkern. Verstecken – und hoffen, dass es am Abend noch da ist. So wie Matratzen unter den Brückenrampen, unter denen Schlafsäcke hervorschauen.

Foto: Thomas Rottenberg

Beim nächsten Mal schauen Sie dann genauer. Und plötzlich sehen Sie nicht nur in den Parks oder in Hauseinfahrten im Zentrum der Stadt wieder, was sie bisher geflissentlich übersehen haben, sondern orten auch in den abgelegeneren Ecken der Insel hin und wieder so etwas wie eine Unterkunft. Im Unterholz, nicht am Hauptweg – und tagsüber meist verlassen. Aber so elend das, was Sie beim kurzen Blick hinein sehen, auch sein mag: Die Eigentümer dieser Habseligkeiten, die Bewohner dieser Tristesse, kommen wieder. Denn was Sie da sehen, ist ein Zuhause. Ja, in Wien.

Und wenn Sie dann weiterlaufen, ein Stückerl weiter weg von den belebten, und asphaltierten Strecken, könnte es sein, dass Sie im Dickicht hin und wieder Holzhaufen – also Ast- und Zweigwerk – erkennen: Einige sind von Kindern gemacht. Pfadfinder-Jurten. Aber ein paar, ganz wenige, werden auch tatsächlich genutzt. Bewohnt. Auch im Winter.

Foto: Thomas Rottenberg

Fragen Sie mich nicht, wieso Menschen sich das antun: Im Palstikfolienverschlag wohnen zwei Menschen. Ein Mann und eine Frau. Im Zelt nahe der Reichsbrücke zwei Männer. Dort, wo derzeit die Behelfs-Autobahn-Brücke über den Donaukanal führt, stand in den letzten Jahren oft ein blaues Zelt zwischen Autobahn und Wasserlinie. Ob es das gleiche war, das ich im unteren Prater dann einige Male durchs Unterholz blitzen sah, kann ich nicht beschwören. Und auf einer der kleinen in der Donau gelegenen Inseln, die man von der "großen" Donauinsel nur sieht, wenn man neben den Pfaden im Gebüsch läuft, lebten im vorigen Winter mindestens fünf oder sechs Leute in einem Camp, dessen Reste – einfache Holzhütten, Plastiksessel, eine Feuerstelle – man sogar jetzt noch beim Vorbeilaufen erkennen kann. Wenn man weiß, dass es da war.

Foto: Thomas Rottenberg

Nein, ich werde hier nicht sagen, wo sich welches Quartier befindet. Mit Gründen: Niemand versteckt sich freiwillig so. Niemand lebt – speziell im Winter – aus Jux und Tollerei so. Und niemand muss und soll deshalb vorgeführt werden.

Deshalb sehen Sie auf diesen Bildern auch keine Menschen. Aber glauben Sie mir: Sie sind da. Ich habe sie gesehen – und die meisten auch angesprochen.

Im Winter tue ich das. Nicht, um ins Gespräch zu kommen: Daran haben weder die Angesprochenen noch ich Interesse. Ich frage nur, um sicher zu sein, dass diese Menschen keine Hilfe benötigen. Um zu hören, oder zu sehen, dass sie stark und gesund genug sind, mich anzumotzen. Mir zu sagen und zu zeigen, dass es mich nix angeht, was sie hier tun. Warum sie hier liegen. Dass ich mich gefälligst um meinen eigenen Kram kümmern soll: Es geht da nicht um Manieren und Konversation – sondern darum, dass es eben auch anders sein könnte. Gerade im Winter.

Foto: Thomas Rottenberg

Ob ich jetzt Lauf-Winterblockwart spielen wolle, fragte mich deshalb unlängst jemand in den sozialen Medien. Ob mir Obdachlose-Aufstöbern und -vernadern wirklich soviel Spaß mache. Ob ich eh wisse, dass jedes dieser "Heime" ein Verstoß gegen die Wiener Campierverordnung – und somit anzuzeigen und dann behördlich zu entfernen sei. Ob ich…

Verschonen Sie mich mit diesem Müll: Nicht einmal die Polizei verjagt im Winter Obdachlose, die niemandem etwas wegnehmen und niemandem im Weg sind. Im Gegenteil.

Foto: Thomas Rottenberg

Das betont auch Klaus Schwertner. Der Sprecher der Wiener Caritas betont ausdrücklich, dass er stolz darauf ist, dass Wien eben wirklich anders ist. Anders als New York zum Beispiel: "Während es dort eine App gibt, auf der man Obdachlose markiert, die dann von den Behörden verjagt werden, haben wir eine sehr gute Kooperation mit der Polizei: Die rufen genauso bei uns beim Kältetelefon – also unter 01/480 45 53 – an und sagen uns, wo wir diese Leute finden – damit wir uns um sie kümmern können: Weil es nicht sein muss, nicht sein kann und nicht sein darf, dass in Wien jemand erfriert."

Foto: Klaus Schwertner

Und genau darum geht es: Wegschauen gilt nicht. Auch und gerade abseits der "beaten tracks". Die üblichen Orte und Ecken, sagt Schwertner, kenne man. Frequentiere man. Sei auch dort froh, "lieber einmal zu oft als einmal zu wenig" angerufen zu werden.

Und man sei froh, auch die abgelegenen Quartiere, Unterkünfte und Verstecke im "Niemandsland" zu kennen. "Mit Blockwart- oder Denunziantentum hat das nichts zu tun: Wenn Läufer, Radfahrer, Wanderer und Spaziergänger uns davon berichten, kann das Leben retten."

Foto: Thomas Rottenberg

Um das zu verstehen muss man nur eines bedenken: Wir sind freiwillig da draußen – aber die Anderen vielleicht nicht.

Im Vorjahr haben übrigens exakt 1.327 Anrufe das Kältetelefon der Caritas (01/480 45 53) erreicht, heuer – bis zum 22. November – waren es bereits 1.058.

SozialarbeiterInnen der Gruft gehen den Hinweisen nach und suchen die genannten Personen und Orte auf. 50 freiwillige Telefon-DolmetscherInnen unterstützen das Streetwork-Team dabei in 23 Sprachen.

Sollte sich ein angesprochener Mensch allerdings in akuter Gefahr oder einem kritischen Zustand befinden, gilt nur eine Nummer: 144 – auch zu Weihnachten.

Mehr Geschichten vom Laufen im Winter gibt es unter www.derrottenberg.com

(Thomas Rottenberg, 21.12.2016)

Foto: Thomas Rottenberg