Staatsbedienstete protestierten bereits Mitte Dezember gegen die Sparpolitik von Präsident Temer.

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Vor kurzem wagte sich Brasiliens Präsident Michel Temer nach langer Abwesenheit einmal wieder in die Öffentlichkeit. Zusammen mit seiner Frau verteilte er Weihnachtsgeschenke an Schulkinder im geschützten Ambiente seines Amtssitzes, des Planalto-Palasts. Das Ereignis wurde ausführlich in den Hauptnachrichten kommentiert. Temer ist ein unsichtbarer Präsident geworden, der sich vor seinem eigenen Volk versteckt. Der 76-jährige Chef der rechtsliberalen Regierungspartei PMDB nahm in den vergangenen Monaten nur zwei öffentliche Termine wahr – aus Angst vor Protesten gegen ihn. Selbst der Trauerfeier für die Opfer des Flugzeugunglücks der Fußballmannschaft Chapecoense wollte er fernbleiben. Nach heftiger Kritik der Angehörigen entschied er sich in letzter Minute um.

Seit Mai ist die neue rechtskonservative Regierung im Amt. Anfang September wurde Temer nach einem juristisch höchst zweifelhaften Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff als Präsident vereidigt. Er ist inzwischen so unpopulär wie kaum ein anderer Politiker vor ihm. Aktuellen Umfragen zufolge wird er nur noch von rund 13 Prozent der Wähler unterstützt. Ende November verlor er seinen sechsten Minister wegen Korruptionsvorwürfen. Diesmal traf es seinen engen Vertrauten, den einflussreichen Stabschef Geddel Vieira Lima.

"Die schwache Popularität von Temer hängt mit der schlechten wirtschaftlichen Lage und den gebrochenen Versprechen bei der Korruptionsbekämpfung zusammen", sagt Roseli Martins Coelho vom politikwissenschaftlichen Institut FESP in São Paulo. Sie hält es für unwahrscheinlich, dass der Präsident bis zu den regulären Wahlen 2018 im Amt bleibt. "Die Situation ist so verworren, dass alles möglich ist – von Amtsenthebung über vorgezogene Neuwahlen bis zur Einsetzung einer Übergangsregierung." Auch im Koalitionslager wird schon offen über einen Rücktritt Temers spekuliert.

"Historischer Fehler"

Getäuscht haben sich all diejenigen, die glaubten, mit einem wirtschaftsfreundlichen Kurs würde Brasilien schnell aus der schweren Krise kommen. Als bislang größtes Projekt hat die Regierung jetzt ein Sparpaket verabschiedet, mit dem die Staatsausgaben für die kommenden 20 Jahre eingefroren werden sollen. Das betrifft vor allem Mittel für öffentliche Gesundheit und Bildung. Eine Protestwelle durchzog daraufhin das Land. Kritiker wie der UN-Sonderberichterstatter Philip Alston sind empört und sprechen von einem "historischen Fehler", der ganze Generationen wieder zurück in die Armut treibe.

Für weitere, teils gewalttätige Massenproteste sorgte die Verabschiedung einer Rentenreform, mit der das Rentenalter heraufgesetzt und Pensionsansprüche verringert werden. Das Pikante daran: Militärs, Politiker und hohe Staatsdiener sind von den Kürzungen ausgeschlossen.

Rezession bei 3,5 Prozent

In Brasilien wächst die Empörung über die Unverfrorenheit der politischen Kaste. Die Mehrheit der Brasilianer spürt deutlich, wie der Sumpf aus Vetternwirtschaft und Schmiergeldzahlungen in Milliardenhöhe die Wirtschaft in den Abgrund gezogen hat. In diesem Jahr wird die Rezession bei 3,5 Prozent liegen.

"Die brasilianische Politik braucht Korruption, um zu funktionieren", meint der US-Wissenschafter Barry Ames, der auch an der Wirtschaftsuniversität Getúlio Vargas in São Paulo geforscht hat. Es gebe keine stabilen Mehrheiten im Kongress, sodass immer Mehrheiten "gekauft" werden müssten. Für Ames ist die Selbstverständlichkeit der Korruption eine Hinterlassenschaft der Militärdiktatur (1964 bis 1985). Viele Politiker hätten zu dieser Zeit ihren Reichtum angehäuft.

Als tickende Zeitbombe gilt zudem die Aussage von Marcelo Odebrecht, dem Präsidenten des größten Baukonzerns und Kronzeugen im monströsen Korruptionsskandal "Lava Jato". Mehr als zwei Milliarden Euro an Bestechungsgeldern sollen dabei an Politiker geflossen sein. Die bisher geheim gehaltene Geständnisliste von Odebrecht und weiteren Managern soll Namen von hunderten Politikern aller großen Parteien umfassen. Inzwischen sickert immer mehr durch. Laut "Folha de São Paulo" taucht der Name von Temer 43-mal im Zusammenhang mit versteckten Geldübergaben und illegaler Wahlkampffinanzierung in den Protokollen auf.

Persönliche Bitte

Nach Aussage eines ehemaligen Direktionsmitglieds des Bauunternehmens soll Temer, damals Vizepräsident der Regierung Rousseff, für den Wahlkampf 2014 umgerechnet rund drei Millionen Euro erhalten haben. Bei einem Abendessen soll er im Mai 2014 Marcelo Odebrecht persönlich um das Geld gebeten haben, heißt es in den Protokollen. Temer weist alle Anschuldigungen zurück. (Susann Kreutzmann aus São Paulo, 21.12.2016)