STANDARD: Sie haben zuletzt von der eigenen Partei gefordert, sie müsse wieder der Schutzschild für soziale Gerechtigkeit sein. Vermögenssteuern und Konzernsteuern müssten hinauf, Steuern auf Arbeit im Gegenzug hinunter. Gleichzeitig unterstreichen Sie bei jeder Gelegenheit den burgenländischen Weg als Königsweg. Geht das zusammen? Das Burgenland allein kann ja überhaupt nichts tun.

Niessl: Wir fordern nichts, was wir nicht im Kleinen leben. Deshalb ist es mir so wichtig zu betonen, dass wir die niedrigste Armutsgefährdung haben und eine hohe Beschäftigung. Wir unternehmen im Burgenland enorme Anstrengungen bei Bildung und Ausbildung. Das Burgenland ist führend bei der Kinderbetreuung. Wir haben die höchste Maturantenquote. Wir haben 1.100 Lehrlinge in Lehrwerkstätten. Vor kurzem haben wir den 6.000. Absolventen von der Fachhochschule verabschiedet. Gute Bildung ist der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit und damit Armutsgefährdung. Wir wollen, dass die internationale Sozialdemokratie auf europäischer Ebene bei diesen Themen mehr Kanten zeigt.

Der dem rechten SPÖ-Flügel zugerechnete Hans Niessl gestikuliert, anders als das Bild glauben macht, linkswärts.
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STANDARD: Und wenn die europäische Ebene sagt: Was das Burgenland will, ist mir powidl?

Niessl: Dass die europäische Ebene das reflexartig sagt, ist mir eh bewusst. Das hat sie auch gesagt bei den Grenzkontrollen, beim Assistenzeinsatz. Und mittlerweile macht das ganz Europa. Wenn also die Europäische Union etwas reflexartig ablehnt, heißt das noch lange nicht, dass es nicht doch was G'scheites ist und auf Sicht umgesetzt wird.

STANDARD: Das Burgenland schreitet voran, und die EU wird schon folgen?

Niessl: Wir bemühen uns ja auf europäischer Ebene gemeinsam als SPÖ. Beispiel Entsenderichtlinie, die ja ein Gesetz für, nicht gegen Lohn- und Sozialdumping ist. Das haben wir aufs Tapet gebracht, die SPÖ-Delegationsleiterin im europäischen Parlament, Evelyn Regner, hat sich starkgemacht für eine Änderung. Und sie wird das weiterhin tun.

STANDARD: Vorerst ein Vorstoß ins eher Leere.

Niessl: Ich könnte mir vorstellen, dass es, wenn nichts weitergeht bei der Besteuerung multinationaler Konzerne, die in der EU höchstens 0,05 Prozent Steuern zahlen – jeder Würstelstand zahlt mehr als die Großkonzerne –, halt ein europäisches Volksbegehren gibt. Da muss sich die Sozialdemokratie engagieren! Weil es nicht so weitergehen kann, dass die kleinen Einkommensbezieher auf der Strecke bleiben, während die Großen keine Steuern zahlen.

STANDARD: Fordert das jetzt die burgenländische Sozialdemokratie? Oder ist das schon die Haltung der österreichischen Sozialdemokratie? Der europäischen?

Niessl: Von der europäischen Sozialdemokratie habe ich diesbezüglich noch nicht viel gehört, das ist mir zu wenig. Es gilt, als Sozialdemokratie Europas Flagge zu zeigen.

Die Sozialdemokratie könne es sich nicht leisten, die soziale Frage weiterhin nicht zu stellen, meint der Landeshauptmann.
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STANDARD: Warum soll irgendjemand der Sozialdemokratie das noch glauben? Immer dann, wenn sie am Ruder war – europaweit etwa zu Zeiten von Deutschlands Gerhard Schröder und Großbritanniens Tony Blair – ruderte sie in die ganz andere Richtung.

Niessl: Genau deshalb gibt es ja diesen schmerzlichen Vertrauensverlust und daraus resultierend einen Verlust bei den Wahlen. Die Sozialdemokratie hat ihrem Kernthema, der sozialen Gerechtigkeit, nicht jenen Stellenwert eingeräumt, der notwendig wäre. Und in Österreich war es so, dass die SPÖ zwar mehr Verteilungsgerechtigkeit gewollt hat, aber in der Koalition mit der ÖVP das nicht gegangen ist.

STANDARD: Sie wollen das im gerade entstehenden Anforderungskatalog für künftige Koalitionspartner festschreiben. Bewegt sich die SPÖ in diese Richtung?

Niessl: Das muss sein. Die Sozialdemokratie kann es sich nicht mehr leisten, Koalitionen zu schließen, ohne diese soziale Frage sehr akzentuiert zu stellen.

STANDARD: Also nicht: mit wem auf keinen Fall? Sondern: Mit wem ist wie viel Sozialdemokratisches machbar?

Niessl: Genau das ist der Punkt. Natürlich muss man sich klar gegen Rassismus, Extremismus und so weiter aussprechen, das ist ja selbstverständlich. Das ist in weniger als einer Minute zu erledigen. Aber für mich als Sozialdemokraten ist es am wichtigsten, wie wir die soziale Gerechtigkeit tatsächlich realisieren können. Das haben wir aus den Augen verloren, deshalb hat die Sozialdemokratie auch sehr, sehr viele Wähler verloren. Wir müssen etwa danach trachten, die Mindestlöhne anzuheben. Ich bin für einen Generalkollektivvertrag.

STANDARD: Den kann aber die Regierung nicht anschaffen.

Niessl: Aber die Gewerkschaft kann ihn fordern, und ich bin da dafür. Man sollte den Generalkollektivvertrag mit 1.500 Euro Untergrenze endlich angehen und Schritt für Schritt umsetzen. Das ist das Wichtigste. Bis das so weit ist, brauchen wir eine Steuerreform von fünf Milliarden Euro für die kleinsten Einkommensbezieher.

"Man sollte den Generalkollektivvertrag mit 1.500 Euro Untergrenze endlich angehen", findet Hans Niessl.
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STANDARD: Und die werden wie gegenfinanziert?

Niessl: Österreich hat die niedrigste Vermögenssteuer. Man muss sich das Modell in Deutschland anschauen. Dort gibt es nämlich deutlich höhere Vermögenssteuern. Niemand will Betriebe ruinieren, aber das tun ja die Deutschen auch nicht. Ganz im Gegenteil.

STANDARD: Der einstige Infrastruktur- und Innenminister Caspar Einem hat unlängst gemeint: "Der Hans Niessl ist ein schlauer Fuchs. Die FPÖ dürfte für Vermögenssteuern zu haben sein." Empfehlen Sie Ihrer SPÖ den Weg des pannonischen Meister Reineke?

Niessl: Ich empfehle gar nichts. Ich finde, was der Bundeskanzler gemacht hat, war richtig, nämlich den Kriterienkatalog erarbeiten zu lassen. Zum Kriterienkatalog habe ich meine Meinung gesagt. Und das Koalitionsabkommen, das wir im Burgenland mit der FPÖ abgeschlossen haben, enthält viele Punkte, die in den Kriterienkatalog hineinkommen werden: gegen Antisemitismus, Radikalismus, Extremismus, Rassismus. Für Europa. Für die österreichischen Volksgruppen und die Mehrsprachigkeit. Die soziale Gerechtigkeit, die wir im Burgenland sowieso leben, muss da halt noch dazukommen. Die SPÖ muss auf die kleinen und mittleren Einkommensbezieher und -bezieherinnen wieder mehr Augenmerk legen. Leute, die 40 Stunden arbeiten, müssen von dem Geld auch leben können.

STANDARD: Ein Gutteil der früheren Klientel der SPÖ ist aber nicht angestellt, sondern selbstständig. Oft sehr prekär. Will, kann, muss die SPÖ auch auf diese Menschen zugehen?

Niessl: Für die gilt das Gleiche. Der Klein- und Kleinstbetrieb hat ja die gleichen Probleme wie die Arbeitnehmer. Sie müssen pünktlich die Steuern zahlen, während die Konzerne keine Steuern zahlen. Wenn ein EPU krank wird, hat er kein Einkommen. Auch das geht uns natürlich was an. Darum müssen wir uns kümmern.

Die SPÖ müsse auch am Stammtisch argumentieren, rät Niessl.
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STANDARD: Muss die SPÖ insgesamt wieder kämpferischer werden?

Niessl: Man muss die Diskussion suchen. Auch am Stammtisch. Wir pflegen das im Burgenland. Aber sonst ist das ein bisserl abhandengekommen in der Sozialdemokratie. Und ja, Diskussionen dort gehen schon sehr zur Sache. Da muss man dann ein bisserl kämpferischer auftreten. Am Stammtisch wird man konfrontiert mit kräftigen Meinungen, da muss man dann auch ordentlich argumentieren.

STANDARD: Sie haben heuer Ihren Fünfundsechziger gefeiert. Denken Sie manchmal an Pension?

Niessl: Nein.

STANDARD: Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil muss also noch warten, um auf Ihrem Sessel Platz nehmen zu können?

Niessl: Schau ma einmal. (Wolfgang Weisgram, 20.12.2016)