Seit 21 Jahren zieht Walter Lohmeyer durch die Lokale Wiens, um die Straßenzeitung "Uhudla" zu verkaufen.

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Martin "Max" Wachter gründete den "Uhudla" vor 25 Jahren.

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15 Schilling kostet die erste Ausgabe.

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Eine Jubiläumsausgabe: "Uhudla" Nummer 105.

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Wien – Dass er heute an seinem Tee nippt und nicht schon vor Jahren am Alkohol zugrunde ging, hat Walter Lohmeyer auch einer Sache zu verdanken, die wie sein größter Feind klingt: dem "Uhudla". Jenem mit "a" am Ende und nicht mit "er", denn der Wein wäre wohl sein Tod gewesen: "Ich habe gesoffen wie ein Loch", sagt der 61-Jährige und setzt einen freundlichen Blick auf. Lohmeyer ist trockener Alkoholiker und einer der bekanntesten Straßenzeitungsverkäufer Wiens – vielleicht sogar der Bekannteste.

Er sei so etwas wie die "Graue Eminenz" der Szene, sagt er über sich: "Mich kennt jeder, und ich kenne jeden." Sitzt man mit Lohmeyer im Café Europa oder im The Epos, wird schnell klar, warum: Ein "Hawara" taucht hier auf, ein anderer lässt sich da blicken. "Serwas. Hast heute was gewonnen?", fragt er einen Gast. Es geht um Kartenspielen.

25 bis 30 Kilometer durch die Stadt

Ob Zeitungsmacher wie die Dichands oder Politiker wie Stenzel, Zilk und Häupl, über alle hat Lohmeyer Anekdoten parat. Häupl sei ein "Grantscherm", sagt er und lacht. Und kauft er auch einen "Uhudla"? "Er selbst hat nie Geld eingesteckt, aber sein Hawara von der Security gibt immer etwas." Bei Lohmeyers Geschichten geht es nicht selten um Alkohol. Sein Revier sind die Lokale dieser Stadt.

Während sich andere dort einen anzüchten, schaut er nur kurz vorbei. 25 bis 30 Kilometer geht er täglich. Schnee? Regen? Hitze? "Alles wurscht", sagt er und zieht an einer Zigarette. Frei nimmt er sich nur sonntags, nicht aber im Advent. Die Christkindlmärkte garantieren ein gutes Geschäft. Beim Punsch sitzt das Geld lockerer.

Den "Uhudla" verkauft Lohmeyer schon seit 21 Jahren. Er ist Verkäufer und Vertriebschef in einem: "Für ein normales Leben ist das Geld ausreichend." Ein Exemplar kostet zwei Euro, einen darf er behalten. Als Selbstständiger ist er der Traum der Sozialversicherung. Ein Ein-Mann-Unternehmen, das regelmäßig Beiträge zahlt und nicht aus der Mode kommt. Höflich und bestimmt, aber nie aufdringlich, spricht er Lokalgäste an, denn "Schnorrer" ist er keiner. Dass er selbst zu den "Uhudla"-Autoren gehört, sei kein schlechtes Verkaufsargument. In der Kolumne "Mit offenen Augen" schreibt er über Wiens Lokal- und Kunstszene.

8,5 Jahre auf der Straße

Lohmeyers Geschichte ist untrennbar mit einer Person verbunden: Martin "Max" Wachter, der vor 25 Jahren den "Uhudla" gründete – die laut Eigendefinition "älteste und rebellischste Straßenzeitung Österreichs". Wenn Lohmeyer über Wachter spricht, schwingt Dankbarkeit mit – und Demut. Er nennt ihn meist "Herausgeber". "Der Herausgeber und seine Frau haben mich damals öfter bei ihnen schlafen lassen." Damals, das war die schwere Zeit vor gut 20 Jahren, als Lohmeyer soff und obdachlos war. Achteinhalb Jahre hat er auf der Straße und in Abbruchhäusern verbracht: "Wenn du das heute machst, bringen sie dich um", sagt er, "du wirst auch schon wegen einer Tschick umgebracht."

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Aufgewachsen ist Lohmeyer in Graz, wo er als Versicherungsmitarbeiter "40.000 bis 45.000 Schilling pro Monat" verdiente. "Hochmut kommt vor dem Fall", sagt er heute. Alkohol, Jobverlust, Scheidung, Obdachlosigkeit, noch mehr Alkohol, Suizidgefahr, Zusammenbruch und ein Arzt, der nach seiner Einlieferung ins Krankenhaus Diabetes diagnostizierte und ihm drei Optionen präsentierte. "Mache ich nichts, habe ich ein halbes Jahr. Mit Insulin und Alkohol sind es drei oder vier Jahre. Ohne Alkohol kann ich auch 100 Jahre alt werden."

Seine Geschichte erzählt er ohne große Gesten. Schuld am Absturz sei er gewesen, niemand anderer: "Zeigen Sie mir eine Frau, der es gefällt, wenn ihr Mann jeden Tag besoffen heimkommt?", fragt er und redet weiter, ohne auf die Antwort zu warten. Seit dem rettenden Krankenhausaufenthalt habe er keinen Schluck Alkohol mehr getrunken. Den Entzug hat er allein geschafft.

Einstieg über die "Gruft"

Auf den "Uhudla" ist Lohmeyer über die "Gruft" aufmerksam geworden. Einer Einrichtung, die Obdachlosen ein Dach über dem Kopf bietet. Weil er kein Geld hatte, habe ihm "der Herausgeber" die ersten 20 "Uhudla" geschenkt. Tausende verkaufte Exemplare später sitzt Lohmeyer im Café Europa und rekapituliert: "Der Straßenverkauf wird härter." Seine schwarze Kapuzenjacke zieht er während des Gesprächs nicht aus. In Lokalen ist er meist am Sprung.

Lohmeyer ist Seismograf gesellschaftlicher Zustände und ihr Chronist zugleich. Die Straßen schreiben die Geschichten. Und Lohmeyer kennt viele davon. Vor Jahren habe er den "Uhudla" beim Opernball oder im Hilton verkauft: "Heute geht das mit den Securitys nicht mehr." Der Markt hat sich verändert, ist härter geworden: Wenn es gut geht, werden Verkäufer nur vertrieben, läuft es blöd, setzt es Prügel. Rivalisierende Clans bilden mafiöse Strukturen: "Sie versuchen, ganze Gebiete zu okkupieren, um ihre Verkäufer dort zu platzieren." Zeitungen fungieren nicht selten als Vehikel zum Betteln, sagt Lohmeyer: "Es gibt arme Hunde, aber 70 bis 80 Prozent der Verkäufer sind Arschlöcher".

Alkohol oder Drogen unerwünscht

Lohmeyer weiß, wovon er spricht, er organisiert den Vertrieb des "Uhudla". Derzeit arbeiten 13 Verkäufer für das Magazin. Kommen könne grundsätzlich jeder, sagt er: "Er darf nur nicht rechts sein. Wir wollen keine Heil-Hitler-Schreier." Beim Verkaufen gibt es Regeln. Alkohol oder Drogen sollten nicht im Spiel sein. Sehr vorsichtig sei er bei Clans und "Pseudoverkäufern". Einmal wollte jemand 18 Zeitungen und zehn "Uhudla" -Ausweise: "Solche Arschlöcher brauche ich nicht."

Wen Lohmeyer aber braucht, ist "Uhudla"-Gründer "Max" Wachter. Während Lohmeyer in Wien kurbelt, kümmert sich Wachter von Portugal aus um Redaktion und Produktion. Der 63-Jährige ist aufgrund einer Lungenkrankheit vor zwölf Jahren nach Südeuropa gezogen. Der Grund ist eine Asbestvergiftung, die er sich als Fliesenleger und Ofenbauer holte. "Keramische Kachelöfen waren damals das Nonplusultra", sagt er heute. Nur nicht für jene, die sie herstellten: "Weil das Asbest die Lunge wegfrisst, bin ich ans Meer gezogen."

KPÖ Burgenland half bei der "Uhudla"-Gründung

Wachter arbeitete später auch als Journalist bei der "Volksstimme". Den "Uhudla" startete er 1991 als "Nonsens"-Projekt. Zum Spaß setzte er sich für die Rehabilitierung des Uhudlers nach dem Weinskandal ein. "Legalisiert den Edeltropfen", stand auf dem Cover der ersten Ausgabe. Und tatsächlich – der Traubensaft darf seit 1992 legal verkauft werden. Bei der Gründung des "Uhudla" half die KPÖ Burgenland mit. Die Partei steckte 30.000 Euro in das Projekt.

"Ich hatte den Ehrgeiz, mit guten Journalisten zu arbeiten", sagt Wachter. Der "Uhudla" sollte eine Zeitung sein, die 15 Schilling wert ist. Heute erscheint sie mit einer Auflage von 12.000 Stück. 105 Ausgaben sind es bis dato. Die Frequenz folgt nicht dem Rhythmus der Jahreszeiten, sondern dem Fleiß der Verkäufer. Sind mehr als 6000 Stück weg, kommt die Produktion in die Gänge.

Ein Baby des Magazins ist der "Augustin". Zuerst als Beilage im Heft, emanzipierte er sich 1995 als eigenständiges Produkt. Der "Uhudla" war aber immer "deftiger und linker" als der "Augustin", sagt Wachter. Drahdiwaberl-Boss Stefan Weber war lange Herausgeber, der kürzlich verstorbene Liedermacher Sigi Maron gehörte viele Jahre zu den Autoren.

"Uhudla"-Ausgaben im Netz

Am liebsten würde er sich zur Ruhe setzen und den "Uhudla" einfach einstampfen, haucht Wachter ins Telefon. Der Asbest hat ihn kurzatmig gemacht. Sein Sehvermögen liegt nur mehr bei zehn Prozent, was ihn aber nicht daran hinderte, den "Uhudla" auch ins Netz zu bringen. Facebook-Präsenz inklusive. Nur das Magazin selbst sieht fast noch so aus wie vor 25 Jahren. Retro-Chic könnte man das nennen.

"Den Uhudla könnte ich auch blind machen, den kann ich auswendig", sagt Wachter. Und so hantelt er sich von Ausgabe zu Ausgabe. Was wenig sentimental klingt, ist dennoch sein Lebensprojekt, denn: "Statthalter" und Kompagnon Lohmeyer hat noch vier oder fünf Jahre bis zur Pension. Das heißt: weitermachen. "Für mich ist das mein Herz", sagt Lohmeyer und grüßt gleich den nächsten Gast, der das Lokal betritt: "Ein Hawara." (Oliver Mark, 24.12.2016)