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"Der Böse reitet schnell und schläft nie": Heimito von Doderer auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1966. Am 23. Dezember jährt sich sein Todestag zum fünfzigsten Mal.

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"Wenn ich mich frage, was ich denn eigentlich wirklich haben möchte und mir wünschte: so wäre es – viel Geld, um in einer Folge schwerster sexueller Excesse, sinnloser Saufereien und dementsprechender Gewalthändel endlich und endgültig unterzugehen. Statt dessen hab' ich das weitaus gewagtere Abenteuer der Tugend gewählt", notierte Heimito von Doderer am 18. Oktober 1951 um "12 Uhr 20 nach Mitternacht" in sein Tagebuch.

Der Autor – wie sein Eintrag ahnen lässt, kein Kind von Traurigkeit – war zu jenem Zeitpunkt 55 Jahre alt und hatte sechs Romane und einen Gedichtband vorgelegt. Seine literarischen Aktien waren zwar gerade im Steigen begriffen, bislang aber war er ein nahezu Unbekannter gewesen. Sechs Jahre später – inzwischen waren die Romane Die erleuchteten Fenster oder die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal (1951), Die Strudlhofstiege (1951) und sein Opus magnum Die Dämonen (1956) erschienen – galt Doderer, dessen NSDAP-Mitgliedschaft allgemein bekannt war, als der Repräsentant der österreichischen Literatur und ein Star, dem der Spiegel unter dem Titel "Der Spätzünder" eine Covergeschichte widmete.

Doch so kometenhaft der Aufstieg des 1896 als letztes von sechs Kindern in eine reiche Familie geborenen Schriftstellers war, so schnell geriet Franz Carl Heimito Ritter von Doderer nach seinem Tod am 23. Dezember 1966 ins Abseits. In diesem Sinn ist die Rezeptionsgeschichte dieses Autors auf vielfache Weise eine der seltsamsten der Nachkriegszeit.

Warum Doderer?

Nach dem Zweiten Weltkrieg, den er als ehemaliger Offizier der Kavallerie bei der Luftwaffe vorwiegend in der Etappe zubrachte, trug Doderer sein am 1. April 1933 erfolgter Eintritt in die NSDAP zunächst einige "Entnazifizierungsschwierigkeiten" (Spiegel) ein, "die von ihm", so Klaus Nüchtern in seinem neuen Buch Der Kontinent Doderer, "übertrieben beziehungsweise nicht ganz ohne Selbstmitleid kommentiert wurden". Auch fürderhin sollte der Autor nur ungern über seine politische Erkrankung und diesen "barbarischen Irrtum" sprechen, zu dem er auch seinen 1936 erfolgten Beitritt zur Reichsschrifttumskammer zählte, den er mit einem antisemitischen Bewerbungsschreiben betrieben hatte.

Seither gilt Doderer vielen als braunes Tuch. Andere, auch gewisser Ideologien Unverdächtige, werden hingegen nicht müde, darauf hinzuweisen, dass man es mit einem Kaliber zu tun habe, das eine literarische Auseinandersetzung nach wie vor lohne. Warum also Doderer lesen? Weil sich, wie Klaus Nüchtern im Kontinent Doderer schreibt, in ihm ein sprachverliebter Verfasser komplexer, formal avancierter Großstadtromane sowie ein zwischen Wut und Idylle, manischer Kontrolle und literarischem Spieltrieb, Hohem und Allzumenschlichem oszillierender Roman-Architekt von Gnaden mit Talent zur plastischen Figurenzeichnung und beträchtlichem kauzig-abgedrehtem Humor entdecken lässt.

Nüchtern, Kolumnist, Literaturkritiker und langjähriger Leiter des Feuilletons des Falter, legt seinen Band als Essay und Studie zugleich an, mit dem für den Leser angenehmen Effekt, dass er es mit einer von Literaturbegeisterung getragenen Mischung aus persönlichen Eindrücken und fundierter Analyse zu tun bekommt. Eine Kombination, die selten ist, und ansteckend wirkt.

Nüchtern erweist sich als Kenner des Werks "seines" Doderer, er wälzt aber auch viel Sekundärliteratur, die in Fußnoten ausgewiesen wird. Wer Nüchtern kennt, weiß, dass er es trotz des germanistischen Sezierbestecks, das zur Anwendung kommt, nicht darauf anlegt, den Leser zu langweilen. Im Gegenteil, zuweilen bürstet er Doderer kräftig gegen den Strich der germanistischen Lehrmeinung. Er hinterfragt, staunt, analysiert (etwa antisemitische Stereotype im Werk Doderers) und verwirft Thesen – auch eigene.

Wie der Untertitel des Buches verspricht, unternimmt Nüchtern eine Durchquerung des Kontinents Doderer –daran interessiert, ihn akribisch zu vermessen, ist er nicht. Vielmehr geht es ihm darum, mittels genauer Lektüre die Topografie eines Werks, den Raum, den es erschließt, spürbar zu machen. Was schlüssig ist. Denn so wie Doderers Figuren in den großen Wien-Romanen Strudlhofstiege und Dämonen durch den Raum bestimmt sind, in dem sie sich bewegen – "es sind loci, aus denen die personae erwachsen" (Wendelin Schmidt-Dengler) –, so transparent wird beim sparsam mit biografischen Daten umgehenden Nüchtern der Mensch hinter dem Werk. Eine Biografie will dieses Buch nicht sein, sie liegt, wie Nüchtern betont, mit Wolfgang Fleischers Das verleugnete Leben schon vor.

Natürlich durchquert Nüchtern auch die morastigen Gegenden des Kontinents Doderer. So fragte er etwa im vierten von sieben Kapiteln unter dem Titel Von der NSDAP zum Triple-A, wie es kommen konnte, dass Doderer in den 1950er-Jahren als "unbestrittener Koloss des Konsenses emporragt, auf den sich auch die bedeutendsten Exponenten der jüdischen Intelligenz einigen" konnten? Antworten: Ausschlaggebend waren vor allem psychosoziale Aspekte. Etwa dass sich Doderer im Gegensatz zu Ilse Aichinger und anderen mit seinen eine Erzählbarkeit der Welt vermittelnden Erzählkosmen als Projektionsfläche für die österreichische Nachkriegsidentität anbot und der Zweite Weltkrieg in seinen Büchern keine direkte Rolle spielt.

Nüchtern: "Der Nationalsozialismus aber bleibt aus Doderers Sicht bloß ein Zwischenspiel, das die Kontinuität wahrhaften Österreichertums nicht dauerhaft zu beschädigen vermochte, ja, in gewisser Weise sogar (...) als Katalysator einer neuen Traditionsweise fungiert." Wobei Doderer, der seine Romane am Reißbrett konstruierte und nach Plan Textmassen zusammenfügte, doch recht "unösterreichisch" arbeitete, wie sein Förderer Hans Weigel meinte.

Es ist ein weiter Bogen, den Nüchtern in seiner Durchquerung skizziert. Er führt von den Anfängen Doderers, der im Ersten Weltkrieg in einem sibirischen Kriegsgefangenenlager den Entschluss fasste, Schriftsteller zu werden, bis zum Fragment gebliebenen, in diese Zeit zurückblendenden Roman Grenzwald, dem nach Die Wasserfälle von Slunj (1963) zweiten Teil des als viersätziges Opus geplanten "Roman No 7".

Witz, zum Roman ausgewalzt

Den gewaltigen Wiener Gesellschafts- und Geschichtspanoramen Die Strudlhofstiege und Die Dämonen – Ersterer exemplifiziert am Beispiel des Amtsrats Melzer die auf den Ersten Weltkrieg folgenden inneren und äußeren Brüche, Letzterer die Erosion der Ersten Republik zur Zeit des Justizpalastbrandes – sind erhellende Passagen gewidmet. Naturgemäß wird auch das brachial-lustige Buch Die Merowinger gewürdigt, von dem Robert Menasse einmal sagte, es handle sich um einen "Witz, zum Roman ausgewalzt".

Es geht darin um den letzten Merowinger, der durch kluge innerfamiliäre Heiratspolitik alle Familienchargen auf sich zu vereinen hofft – so schafft er es etwa, sein eigener Schwiegersohn zu werden. Schon Doderers Ein Mord, den jeder begeht (1938) sprach davon, dass, wer sich in die Familie begebe, darin umkomme. Wie Doderer leidet auch der Merowinger an heftigen Wutanfällen, Linderung verschafft dann eine Gruppentherapie bei Dr. Döblinger, einem "Denker und Drescher", die darin besteht, dass man gemeinsam irgendwelche Leute hauen geht.

In Kontinent Doderer werden einige Obsessionen und Abgründe Doderers thematisiert, auch eine Neigung zum Voyeurismus, der im Roman Die erleuchteten Fenster (1950) eine tragende Rolle spielt und den Nüchtern mit Hitchcocks Film Das Fenster zum Hof (1954) querschneidet.

Insgesamt vermittelt Nüchterns Buch ein vielschichtiges, zur Doderer-Lektüre anregendes Bild, das der schriftstellerischen und seelischen Komplexität seines Untersuchungsobjekts, das im Guten wie im Schlechten wienerischer nicht sein könnte, gerecht wird. Gewünscht hätte man sich ein Stichwortverzeichnis, entschädigt wird man am Ende dieses auch äußerlich schönen Buchs mit einem Who's who der Strudlhofstiege und der Dämonen mit mehr als 200 Einträgen.

Zum Beispiel über den in Stinkenbrunn ansässigen alten Zdarsa, einem von Angst geleiteten, politisch erschreckend ahnungslosen Mann, von dem Doderer in den Dämonen scheibt: "Der alte Zdarsa sah aus wie ein toll gewordener Tabak-Trafikant, wenn er auf seinem Puch-Rößlein durch die Ortschaft sauste (...) Er sah fast unheimlich aus. Man konnte an das peinliche Sprichwort gemahnt werden: ,Der Böse reitet schnell und schläft nie.'" (Stefan Gmünder, Album, 23.12.2016)