Volkstheater-Party oder: zu Gast in Rechnitz, wo der Bär los ist. Sebastian Klein, Katharina Klar, Kaspar Locher, Birgit Stöger, Thomas Frank, Steffi Krautz und Claudia Sabitzer (v. li.).

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Wien – Der vielleicht wichtigste Theatertext Elfriede Jelineks heißt Rechnitz (Der Würgeengel). Am Abend des 24. März 1945 wurde in einem Schloss an der burgenländisch-ungarischen Grenze ein Massaker an 180 jüdischen Zwangsarbeitern begangen. Lokale NS-Chargen schossen unter der Anleitung von Hausherrin Margit von Batthyáni ihre Magazine auf die Arbeitssklaven leer. Was folgte, war die nachträgliche Schändung des Andenkens der Opfer. Das Massengrab wurde nicht lokalisiert, die Täter, voran die Gräfin, blieben im Großen und Ganzen unbehelligt.

Die Zeugen des grauenhaften Geschehens in Rechnitz sind Boten. Diese sind die Nachfahren jener Berichterstatter, deren schlechte Kunde in der Tragödie dazu beitrug, den nichtsahnenden Helden kopfüber in sein Unglück zu stürzen.

Redeübung

Für ihr Wiederauftreten im Wiener Volkstheater haben sich die Meldegänger beiderlei Geschlechts besonders verführerisch herausgeputzt. Wie Travestiekünstler tauchen sie durch eine Bodenklappe an der Rampe empor. Sieben Domestiken hat Regisseur Milos Lolic für seine Jelinek-Redeübung versammelt. Ihre Körper stecken in Trikots und Netzstrümpfen. Polster betonen obendrein noch Steiß und Hüfte.

Rechnitz handelt aber von anderen Problemstoffen als dem Hüftgold. Wieder und wieder wälzen die Boten des Unglücks die Sprache der Täter um. Jelinek wühlt sich mit fasziniertem Ekel durch das Geschwätz der Mörder wie auch das der Nachgeborenen. Sie nimmt jede Redensart beim Wort und stellt sie vom Kopf zurück auf die Füße.

So kommt sie vom Hölzchen aufs Stöckchen. Das "Geschick" (beim Handwerk des Tötens) leitet folgerichtig über zum Hölderlin-Wort des "Geschicks" (als schicksalhafter Sendung). Es scheint, als könnten diese 150 Buchseiten Rechnitz niemals zur Ruhe kommen.

Brocken des Anstoßes

Als Einflüsterer hat sich die Nobelpreisträgerin von 2004 der Dienste von T. S. Eliot (The Hollow Men), von Euripides und Luis Buñuel versichert. Die grausige Suada wälzt den Brocken des Anstoßes fort und fort. Es ist, als ob kein Zungenschlag der Welt die Rechnitzer Toten ans Tageslicht zurückholen könnte. Ganz gewiss aber fördert auch die Inszenierung am Weghuberpark keine besonderen Erkenntnisse zutage.

Lolic hat sich vorgenommen, den messerscharfen Text der Botinnen mit Videoerzeugnissen des schwarzen Popmarktes zu konterkarieren. Und in der Tat, die Schlächter von Rechnitz feierten ja ein ausgelassenes Fest, ehe sie sich zum Schießen zusammenrotteten.

Es wird getanzt auf der Bühne, bis die Schwarten krachen. Die Choreografien von Beyoncé oder Tina Turner dienen, als flackernde Zitate auf die Rückwand geworfen, als Anleitung zum Drill. Party und Mobilisierung gehören zusammen wie die Kehrseiten ein- und derselben Medaille. Wunderbare Rezitatoren wie Claudia Sabitzer oder Thomas Frank sind vor allem damit beschäftigt, ihre Luxuskörper in immer neue Freizeitfetzen zu hüllen. Das zehrt am Stück, fügt ihm vor allem nichts Erhellendes hinzu.

Stadttheater

In der Bühnenmitte (Ausstattung: Paul Lerchbaumer) ragt ein Scheiterhaufen aus weiß getünchten Barocktüren hoch. Über die Bühne gleitet aber beinahe unbemerkt in hohen Stiefeln ein schöner, stummer Engel der Geschichte (Jasmin Avissar). Es gibt Botinnen, die von Jelineks Prosa in Hysterie gestürzt werden (Birgit Stöger). Es gibt grobschlächtige Ansager und sündenstolze Täter, die über unbekannten Gräbern zusammensinken und brünstige Paare bilden. Momentweise flackert sogar die Poesie des Todes auf.

Man gewahrt den Fleiß, den alle Beteiligten aufwenden. Man beklagt das Fehlen von Rhythmus, von sarkastischer Emphase. Und denkt nicht ohne Weh an Jossi Wielers furiose Uraufführungsinszenierung zurück, 2008 in den Münchner Kammerspielen. Irgendwann haben sich alle Beteiligten zwar nicht nach Rechnitz, aber irgendwie in die 1960er-Jahre zurückerzählt. Nina Simone erhebt nun via Videozuspielung ihre herbe Stimme.

Es stimmt schon: Die, die dissident sind, pflegt man geflissentlich zu überhören. Aber Elfriede Jelineks ingeniöser Rechnitz-Text wird auch diese brave, unerhebliche, anerkennend beklatschte und noch mehr begähnte Stadttheateraufführung überstehen. (Ronald Pohl, 12.12.2016)