Gemessen an den Zahlen ist es ein Reinfall. Gemessen am Hochmut und an den erpresserischen Drohungen, die der türkische Präsident an den Tag legt, ein enormer politischer Fehler. Gemessen an der Nachlässigkeit schließlich, mit der es verfolgt wird, an der Planlosigkeit, die ihm in Wahrheit zugrunde lag, ist das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei ein tiefes Unrecht an den betroffenen Menschen. Doch falls es ein Trost ist: Dieses Abkommen ist noch das Beste, was Europa eben zustande bringt.

Der Menschenhandel, den die EU mit der nationalistisch-islamistischen Führung in Ankara vor neun Monaten schloss, war eine Schnittmenge: zwischen der Abschottungspolitik der Mitteleuropäer, die angesichts der Massenaufnahme von Flüchtlingen Angst vor ihrem eigenen Mut bekommen haben; dem Egoismus der Osteuropäer von Bulgarien bis Polen, die vergessen haben, dass ihre Grenzen 1989 nicht nur für sie allein aufgegangen sind; der gewählt autoritär regierten Türkei von Tayyip Erdogan, die nach Anerkennung dürstet und nach Wiedergutmachung für – so empfundene – jahrzehntelange Erniedrigungen durch die Europäer. Kann ein Abkommen für drei Millionen oder mehr Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge auf einer solchen Basis funktionieren?

Es hat die Schlepper in der Türkei arbeitslos gemacht und die Zahl der lebensgefährlichen Überfahrten in Schlauchbooten zu den griechischen Inseln drastisch gestutzt. Das ist schon sehr viel.

Wie geht es weiter?

Doch wie soll es nun weitergehen? 11.000 Flüchtlinge sind auf den griechischen Inseln in der Ostägäis interniert. Lässt Erdogan das Abkommen mit den Europäern platzen, können es – je nach Wind und Wetter – binnen eines Monats schon fünfmal mehr Menschen sein, die auf den Inseln stranden. Der größte Teil der Flüchtlingsbevölkerung in der Türkei will weg.

Für Griechenland sind die derzeit insgesamt mehr als 60.000 Flüchtlinge auf dem Festland und auf den Inseln schon eine Belastung, mit der es kaum zurande kommt. Einen steten Fluss von hunderttausenden neuen Flüchtlingen aufzunehmen, scheint unter diesen Umständen völlig illusorisch. Die Regierung in Athen will gar nicht erst darüber nachdenken.

Der nun geplante Neustart des Dublin-Abkommens und die Rücknahme von Flüchtlingen aus der EU ab März kommenden Jahres erscheinen ebenso unrealistisch: Athen wie Rom akzeptieren die Ratio nicht mehr, wonach EU-Mitgliedstaaten, die am Rand der Union liegen, allein das Problem mit ankommenden Flüchtlingen schultern sollen, während sich die EU-Staaten in der Mitte oder im Norden zurücklehnen.

Der Verschiebemechanismus für Flüchtlinge läuft jetzt schon außerordentlich langsam: Nur rund 8000 syrische Kriegsflüchtlinge sind bisher aus Griechenland und Italien über die EU verteilt worden; 160.000 hatte die Mehrheit der EU-Regierungen verabredet. Lediglich 2700 Syrer sind aus der Türkei gemäß dem Flüchtlingsabkommen bisher in die EU umgesiedelt worden. Weniger als 800 Migranten wurden von den griechischen Inseln wieder in die Türkei abgeschoben. Engpässe beim Personal in den Asylverfahren sind dafür verantwortlich. Aber auch die Zweifel an der Türkei.

Ankara pocht auf das Ende des Visazwangs ohne weitere Bedingungen. Das Flüchtlingsabkommen – so schlecht es ist – wankt deshalb jetzt. (Markus Bernath, 8.12.2016)