In der litauischen Kindermumie aus dem 17. Jahrhundert fanden Wissenschafter brisantes Genmaterial: Die isolierten DNA-Fragmente des Pockenvirus deuten darauf hin, dass der Erreger der tödlichen Seuche jünger ist als angenommen.

Foto: Kiril Cachovski of the Lithuanian Mummy Project

Hamilton/Wien – Die Pocken zählten bis zu ihrer offiziellen Ausrottung vor 36 Jahren zu den gefährlichsten Infektionskrankheiten überhaupt. Allein im 20. Jahrhundert dürften bis zu 500 Millionen Menschen an der Seuche gestorben sein. Dass die Pocken heute praktisch kein Thema mehr sind, ist einer rigorosen staatlich verordneten Durchimpfung zu verdanken, die bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts dazu führte, dass die Krankheit in Europa allmählich zurückgedrängt wurde.

Wirklich besiegt wurden die Pocken aber erst, nachdem die Weltgesundheitsorganisation ab 1967 eine weltweite Impfpflicht erlassen hatte. Der letzte bekannte Pockenfall trat 1978 im englischen Birmingham als Folge eines Laborunfalls auf. Zwei Jahre später erklärte die WHO die Welt für pockenfrei. Seither existiert der Erreger – zumindest offiziell – nur noch in zwei Hochsicherheitslabors in den USA und Russland.

Woher dieses tödliche Virus einst kam und von welcher Tierart es auf den Menschen übersprang, ist unklar. Wissenschafter gingen allerdings bisher davon aus, dass bereits die alten Ägypter von den Pocken geplagt wurden: Rund 4000 Jahre alte Mumien weisen Hautveränderungen auf, die als Folgen einer Pockeninfektion interpretiert werden. Auch in Indien und China sollen die Pocken bereits vor Jahrtausenden gewütet haben.

Ein nun im Fachjournal "Current Biology" präsentierter Fund stellt diese Interpretation jedoch deutlich infrage: Ein internationales Forscherteam um Ana Duggan von der McMaster University in Hamilton, Kanada, hat in einer Kindermumie aus dem 17. Jahrhundert Hinweise darauf entdeckt, dass die Pocken erst bedeutend später die Menschheit heimgesucht hatten als bisher angenommen.

400 Jahre altes Virus

Nach einer offiziellen Genehmigung durch die WHO entnahmen die Wissenschafter den sterblichen Überresten aus der Krypta einer Kirche in Litauen Fragmente des Pockenerregers und rekonstruierten dessen Erbgut im Labor. Der Todeszeitpunkt des Kindes wurde auf einen Zeitraum zwischen 1643 und 1665 eingegrenzt – eine Epoche, für die in Europa mehrere Pockenausbrüche dokumentiert sind.

Das Resultat der genetischen Analyse der sequenzierten Erbgutrelikte überraschte die Forscher: Der Vergleich mit Pocken-DNA von modernen Proben aus den 1940er- bis 1970er-Jahren zeigte, dass die Virusstränge evolutionär nur bis zu einem gemeinsamen Vorfahren zurückreichen, der erst zwischen 1588 und 1645 entstanden sein muss.

Darüber hinaus ergab die Untersuchung, dass die Evolution des Pockenvirus zu zwei Hauptsträngen geführt hatte: zu dem meist tödlichen Variola major und dem etwas weniger aggressiven Variola minor. Die beiden Entwicklungslinien waren entstanden, nachdem der englische Arzt Edward Jenner 1796 einen Impfstoff entwickelt hatte. Woher das tödliche Pockenvirus ursprünglich gekommen ist, bleibt damit allerdings weiterhin ein Rätsel.(Thomas Bergmayr, 8.12.2016)