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Paraguays Guaraní-Indigenas fordern Ausgleichszahlungen für Stevia-Süßstoffe.

Foto: Reuters/Adorno

Ita Guasú, Paraguay. An der Bundesstraße 5 zwischen Paraguay und Brasilien liegt das Tor zum Nabel der Guaraní-Welt. Es ist aus Holz und seit neuestem mit einem Vorhängeschloss gesichert. Denn Gastfreundschaft kann auch zum Verhängnis werden, wie Luis Arce gelernt hat. "Vor etwa 40 Jahren kamen die Japaner", erinnert sich der 60-jährige Guaraní-Chef. Damals führten nur Trampelpfade in die Indigena-Gemeinde Ita Guasú, in der es bis heute weder Strom noch fließendes Wasser gibt.

Die Japaner wussten, wonach sie in dieser einsamen Gegend suchten: nach dem Süßkraut Stevia rebaudiana. "Mein Vater zeigte ihnen bereitwillig die Pflanze", erinnert sich Arce. Eigentum gibt es in der Weltanschauung der Guaraní nicht; die Natur schenkt den Menschen, was sie brauchen, man darf ihr daher nur so viel entnehmen, wie man unbedingt benötigt.

Doch die Logik der japanischen Wissenschaftsmission, die mit Erlaubnis der paraguayischen Regierung das Land nach interessanten Pflanzen abgraste, war eine andere. "Kurz darauf kamen sie zurück, gruben alle Sträucher aus, die sie fanden, und gingen wieder", erzählt Arce. Was für die Guaraní und für Paraguay zu einer wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte hätte werden können, war zu Ende, bevor es richtig begann.

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Stevia-Setzlinge werden ausgeladen.
Foto: Reuters/Jorge Adorno

"Biopiraterie" nennen Nichtregierungsorganisationen wie Public Eye aus der Schweiz so ein Vorgehen. Seit 1993 soll eine UN-Konvention über Biodiversität derartigen Missbrauch mit dem Wissen der Urvölker ohne Einwilligung und ohne Vorteilsausgleich verhindern. "Aber die Konvention gilt nach Interpretation der Industrieländer nicht rückwirkend", klagt François Meienberg von Public Eye. Die Organisation fordert dennoch zumindest freiwillige Ausgleichszahlungen an die Guaraní.

"Unmoralisches Verhalten"

Das Verhalten der Industriestaaten sei "unmoralisch", kritisiert Miguel Lovera von der staatlichen Saatgutbehörde Senave, weil es dem Geist der Konvention zuwiderlaufe, da die meisten Pflanzen der Erde schon lange vor der Konvention bekannt und katalogisiert wurden.

Die Druckserei der Industriestaaten hat einen guten Grund: Die Stevia ist im Zentrum eines Milliardenpokers der Lebensmittelindustrie. Zucker ist gesundheitsschädlich, und wir essen viel zu viel davon – diese Erkenntnis hat sich trotz gegenteiliger Propaganda inzwischen herumgesprochen. Die Jagd auf gesunde Süße hat begonnen, und Stevia – enthalten zum Beispiel in "Cola Life" – steht im Zentrum der Forschungen der Konzerne. Schon heute werden mit Produkten, in denen Steviolglykoside enthalten sind, bis zu zehn Milliarden Dollar umgesetzt.

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Aus getrockneten Stevia-Blättern wird Süßstoff hergestellt.
Foto: Reuters/Jorge Adorno

Der Tessiner Biologe Moises Bertoniaus entdeckte die Stevia bei einem Paraguay-Aufenthalt 1887 und machte sie auch in der "alten Welt" bekannt. 1931 untersuchten französische Chemiker das Kraut. Dabei kam heraus, dass die Stevia mehrere Glukosemoleküle enthält – im Gegensatz zum handelsüblichen Zucker, der auf Saccharose basiert. Das macht sie nicht nur zahn- und figurfreundlich, sondern auch verträglich für Diabetiker.

Bitterer Beigeschmack

Nachteil der Naturform ist allerdings ein bitterer Beigeschmack. Den wollen Konzerne wie die Schweizer Evolva nun mittels synthetischer Herstellung herausfiltern. Funktionieren soll das mittels gentechnisch manipulierter Hefen. Unterstützt wird Evolva dabei vom US-Multi Cargill. Am Ende könnte ein Steviolglykosid stehen, das noch nie eine Stevia-Pflanze gesehen hat.

Doch selbst dann hält Meienberg Ausgleichszahlungen für nötig: "Die Firmen wissen ja nur dank dem Wissen der Guarani, dass Stevia süßt und nutzen Gensequenzen der Pflanze."

"Natürlich", wie die Stevia gerne angepriesen wird, wäre die synthetische Süße nicht mehr. Auch schon heute ist die Herstellung der Steviolglykoside mit hohem Chemie- und Energieaufwand verbunden. Hunderte von Patenten auf solche Prozesse gibt es – kein einziges bisher in Paraguay, wo Staat und Unternehmer irrtümlich lange davon ausgingen, die Natur sei nicht patentierbar. Bis heute sind die Urheberrechte der Stevia oder Kompensationszahlungen für die Guaraní auf staatlicher Ebene kein Thema.

Haltung der Konzerne

Die Schweizer Evolva zeigte sich bereit, eine Vereinbarung über einen "gerechten Vorteilsausgleich" auszuhandeln. Nestlé bekräftigte etwas zurückhaltender, das Prinzip des Vorteilsausgleichs zu unterstützen und die Möglichkeit eines "verstärkten Engagements" bei Stevia zu prüfen. Unilever hingegen antwortete nicht auf die Anfrage dieser Zeitung; Coca-Cola erklärte ausweichend, das Unternehmen sei um Nachhaltigkeit bemüht und versuche, "paraguayischen Bauern ein angemessenes Umfeld für die Vermarktung von Stevia" zu schaffen.

In Ita Guasú ist heute weit und breit keine Stevia mehr zu sehen Es gebe einen Bach, erinnern sich die Alten, wo es vielleicht noch ein paar Wildformen gäbe. Doch der liegt auf einer Rinderfarm, eingezäunt und bewacht von bewaffneten Aufpassern. Das Landgrabbing macht dem einstigen Nomadenvolk besonders zu schaffen. In Paraguay, aber besonders auf der brasilianischen Seite der Grenze, haben sich Viehzüchter, Zucker-, Soja- und Drogenbarone Zehntausende Hektar unter den Nagel gerrissen.

Hätten wir Geld, könnten wir Land zurückkaufen, und vielleicht würden uns die Weißen dann in Ruhe lassen", hofft Guaraní-Chef Arce. Mehr wünscht er sich gar nicht.

Vom 4. bis 17. Dezember findet in Cancún die Cop-13-Nachfolgekonferenz der Biodiversität statt, in deren Mittelpunkt die Bewertung von Urheberrechten bei synthetischer Biologie steht. (Sandra Weiss, 4.12.2016)