Der österreichische Supergroßmeister Markus Ragger analysiert das Tiebreak

Österreichischer Schachbund

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Magnus Carlsen mit dem Objekt der Begierde.

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Hat sich viele Sympathien erspielt und ging mit einem Lächeln: Sergej Karjakin.

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In den vergangenen drei Wochen der Nabel der Schachwelt: der Glaskobel von New York.

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Schlussstellung der ersten Partie: Remis.

Grafik: jinchess.com

Schlussstellung der zweiten Partie: Patt.

Grafik: jinchess.com

Schlussstellung der dritten Partie: Schwarz, also Carlsen, gewinnt.

Grafik: Jinchess.com

Schlussstellung der vierten Partie: Weiß, also wieder Carlsen, gewinnt.

Grafik: jinchess.com

Die allerletzte Partie im Schnelldurchlauf.

New York – Die Brooklyn Bridge ist in Nebel gehüllt, es regnet in Strömen. Im Fulton Market Building in Manhattan lassen sich Magnus Carlsen und Sergej Karjakin in ihren Sesseln nieder, die erste Tiebreak-Partie steht bevor. Heute gibt es kein langes Taktieren mehr, keinen Aufschub, kein "Morgen ist auch noch ein Tag". Heute wird entschieden, wie der Schachweltmeister 2016 heißt: Magnus Carlsen oder Sergej Karjakin.

In der ersten von vier Schnellschachpartien führt der Herausforderer die weißen Steine. Er eröffnet mit dem Königsbauern, bald steht die in diesem Match schon oft gesehene Spanische Eröffnung am Brett. Und wieder einmal ist Magnus Carlsen mit Schwarz der Erste, der seinen Gegner mit dem Springerrückzug 9...Sb8 zum Nachdenken zwingt. Bald darauf gewinnt der Weltmeister in einer geschlossenen Stellung etwas Raum am Damenflügel, muss dafür aber eine gewisse Schwächung seiner weißen Felder in Kauf nehmen.

Karjakin denkt

Karjakin muss sich in der neuen Lage erst einmal orientieren, während der Weltmeister seine Züge weiterhin fast ohne Nachzudenken abfeuert. Im Ergebnis dessen sind Sergej Karjakin nach zwanzig Zügen nur noch zehn Minuten Bedenkzeit verblieben, dafür bescheinigen Kommentatoren wie mitlaufende Computerprogramme dem Weißen die etwas angenehmere Stellung.

In der Folge findet der Russe aber nicht die genaueste Forsetzung, sein Bedenkzeitmangel dürfte daran nicht unschuldig sein. Das gibt Carlsen Gelegenheit, den gesamten Damenflügel zu liquidieren, nach dreißig Zügen steht ein ziemlich ausgeglichenes Endspiel am Brett. Zwar hat der Norweger zu diesem Zeitpunkt noch fast doppelt so viel Bedenkzeit zur Verfügung wie sein Gegenüber, die Stellung bietet dem Weltmeister aber keine Ansatzpunkte für ein Spiel auf Gewinn.

Remis

Bald ist die Uhr des Herausforderers auf fünf Minuten heruntergelaufen, Magnus Carlsen sind der Minuten noch zehn verblieben. Der weiße Raumvorteil bedeutet, dass hier wenn überhaupt nur der Anziehende besser stehen kann. Substantielles ist für Karjakin allerdings nicht zu erkennen, und seine Uhr tickt erbarmungslos herunter.

Nach siebenunddreißig Zügen spielen die Bedenkzeit-Unterschiede aber keine Rolle mehr: Das Endspiel bietet beiden Seiten keine realistischen Gewinnchancen mehr, die Spieler einigen sich auf Remis. Der Weltmeister hat seine erste Schwarzpartie in diesem Tiebreak somit überstanden und darf sich auf zwei Weißpartien in den noch ausstehenden drei Spielen freuen.

Zweite Partie

Die zweite Tiebreak-Partie beginnt wie die erste: mit Doppelschritten der beiden Königsbauern und mit Zeitvorteil für Magnus Carlsen. Diesmal steht eine Italienische Partie am Brett, auch das hat man bei dieser WM bereits gesehen. Nach achtzehn Zügen hat sich Carlsen eine leichte Initiative erarbeitet, Karjakin sind abermals weniger als zehn Minuten Bedenkzeit verblieben. Kann der Weltmeister hier den ersten harten Punch in diesem Tiebreak landen?

Wenig später hat Carlsen zum ersten Mal in diesem Tiebreak großen Vorteil: Eine Abwicklung beschert dem Weltmeister zwei Läufer für Karjakins Turm. Und wieder ist dem Herausforderer kaum mehr Bedenkzeit verblieben – im Gegensatz zu Partie eins des Tiebreaks ist jetzt aber auch die Stellung des Russen kritisch, was die Zeitnot sehr viel ungemütlicher macht.

Carlsen patzt

Aber Carlsen zeigt Nerven: Er verpasst in der Folge mehrere Möglichkeiten, seinen Vorteil entscheidend zu vergrößern, und lenkt die Partie in ein Endspiel, von dem keiner der kommentierenden Großmeister spontan zu sagen weiß, ob es für Weiß gewonnen ist.

Der Weltmeister opfert einen Bauern, um dem schwarzen König zu Leibe zurücken, verpasst danach aber unter hohem Zeitdruck mehrmals den Knockout. Nach vierundachtzig Zügen rettet sich Karjakin schließlich ultimativ durch einen Patt-Trick: Er opfert alles verbliebene Material, Carlsen muss die Krot schlucken, der schwarze König hat keine legalen Züge, steht aber nicht im Schach: Remis!

Nächster Versuch

Auch in Partie drei legt Carlsen die harten Bandagen nicht ab, obwohl er nun wieder mit den schwarzen Steinen spielt. Im x-ten Geschlossenen Spanier dieser WM schließt der Weltmeister zunächst das Zentrum, um bald darauf seine halbe Armee dem weißen König entgegenzuwerfen. Kann Carlsen jetzt den vollen Punkt abholen, der ihm in der zweiten Partie noch durch die Finger gerutscht ist?

Karjakin muss einmal mehr schon früh in der Partie viel Zeit nehmen. Wieder driftet der Herausforderer der Fünf-Minuten-Grenze entgegen, wieder hat der Weltmeister die Initiative. Als Carlsen im dreißigsten Zug einen Bauern opfert, sieht es ein weiteres Mal so aus, als ob diese Stellung mit nur noch wenigen Minuten Bedenkzeit für Karjakin kaum zu verteidigen ist.

Der Weltmeister führt

Und tatsächlich, noch einmal lässt Carlsen sich die Butter nicht vom Brot nehmen. Mit ein paar kräftigen Zügen dringt der Norweger in die weiße Stellung ein und stellt Drohungen gegen den weißen König auf, die nicht mehr parierbar sind. Karjakin gibt auf. Der Bann ist gebrochen, der Weltmeister führt – nur noch ein Sieg mit den schwarzen Steinen kann Sergej Karjakin in Partie vier des Tiebreaks nun noch im Spiel halten.

Folgerichtig packt der Herausforderer in dieser vierten Partie die Sizilianische Verteidigung aus: Ein aktives System, das Karjakin wie Carlsen in diesem Match mit Schwarz bisher vermieden hatten. Carlsen wählt als Gegengift einen positionellen Aufbau, mit dem er die Stellung unter Kontrolle und das Verlust-Risiko niedrig hält.

Carlsen machts

Schon nach zwanzig Zügen wird klar, dass der Weltmeister in dieser vierten Partie alles unter Kontrolle hat. An beiden Flügeln ist Karjakin mit seinen Randbauern vorgestoßen, an beiden Flügeln kontrolliert Carlsen die wichtigsten Felder und damit das Spiel. Im Zentrum übt der Norweger zudem lästigen Druck auf Karjakins Bauernschwäche auf d6 aus. Und ein weiteres Mal verbleiben Karjakin für den Rest der Partie fast nur noch die Bonussekunden, die er bei jedem Zug erhält.

Nach 50 Zügen macht Carlsen dann den Sack zu: Nachdem Karjakin dem Remis trotz schlechterer Stellung mehrmals ausgewichen ist, opfert der Weltmeister spektakulär seine Dame, Karjakin streckt die Waffen. Carlsen gewinnt damit auch die vierte Tiebreak-Partie und bleibt Weltmeister!

Ein großartiger Abschluss für eine bis zur letzten Sekunde spannende Schach-WM. Am Ende setzt sich mit Magnus Carlsen doch der Favorit durch, zwischendurch hatte es nicht gut für ihn ausgesehen. Entsprechend enttäuscht wird der Herausforderer sein, der dem Champion einen großen Kampf geliefert hat, aber in den Tiebreaks letztlich ziemlich chancenlos war. (Anatol Vitouch aus New York, 1.12.2016)

Liveticker

User-Ticker zum Finale Carlsen vs. Karjakin

Notation – Tiebreak 1:

Weiß: Sergej Karjakin (Russland)
Schwarz: Magnus Carlsen (Norwegen)

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.O-O Le7 6.d3 b5 7.Lb3 d6 8.a3 O-O 9.Sc3 Sb8 10.Se2 c5 11.Sg3 Sc6 12.c3 Tb8 13.h3 a5 14.a4 b4 15.Te1 Le6 16.Lc4 h6 17.Le3 Dc8 18.De2 Td8 19.Lxe6 fxe6 20.d4 bxc3 21.bxc3 cxd4 22.cxd4 exd4 23.Sxd4 Sxd4 24.Lxd4 Tb4 25.Tec1 Dd7 26.Lc3 Txa4 27.Lxa5 Txa1 28.Txa1 Ta8 29.Lc3 Txa1+ 30.Lxa1 Dc6 31.Kh2 Kf7 32.Lb2 Dc5 33.f4 Ld8 34.e5 dxe5 35.Lxe5 Lb6 36.Dd1 Dd5 37.Dxd5 Sxd5

Notation – Tiebreak 2:

Weiß: Magnus Carlsen (Norwegen)
Schwarz: Sergej Karjakin (Russland)

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Lc5 4.O-O Sf6 5.d3 O-O 6.a4 a6 7.c3 d6 8.Te1 La7 9.h3 Se7 10.d4 Sg6 11.Sbd2 c6 12.Lf1 a5 13.dxe5 dxe5 14.Dc2 Le6 15.Sc4 Dc7 16.b4 axb4 17.cxb4 b5 18.Se3 bxa4 19.Txa4 Lxe3 20.Lxe3 Txa4 21.Dxa4 Sxe4 22.Tc1 Ld5 23.b5 cxb5 24.Dxe4 Dxc1 25.Dxd5 Dc7 26.Dxb5 Tb8 27.Dd5 Td8 28.Db3 Tb8 29.Da2 h6 30.Dd5 De7 31.De4 Df6 32.g3 Tc8 33.Ld3 Dc6 34.Df5 Te8 35.Le4 De6 36.Dh5 Se7 37.Dxe5 Dxe5 38.Sxe5 Sg6 39.Lxg6 Txe5 40.Ld3 f6 41.Kg2 Kh8 42.Kf3 Td5 43.Lg6 Ta5 44.Ke4 Tb5 45.h4 Te5+ 46.Kd4 Ta5 47.Kc4 Te5 48.Ld4 Ta5 49.Lc5 Kg8 50.Kd5 Tb5 51.Kd6 Ta5 52.Le3 Te5 53.Lf4 Ta5 54.Ld3 Ta7 55.Ke6 Tb7 56.Kf5 Td7 57.Lc2 Tb7 58.Kg6 Tb2 59.Lf5 Txf2 60.Le6+ Kh8 61.Ld6 Te2 62.Lg4 Te8 63.Lf5 Kg8 64.Lc2 Te3 65.Lb1 Kh8 66.Kf7 Tb3 67.Le4 Te3 68.Lf5 Tc3 69.g4 Tc6 70.Lf8 Tc7+ 71.Kg6 Kg8 72.Lb4 Tb7 73.Ld6 Kh8 74.Lf8 Kg8 75.La3 Kh8 76.Le6 Tb6 77.Kf7 Tb7+ 78.Le7 h5 79.gxh5 f5 80.Lxf5 Txe7+ 81.Kxe7 Kg8 82.Ld3 Kh8 83.Kf8 g5 84.hxg6

Notation – Tiebreak 3:

Weiß: Sergej Karjakin (Russland)
Schwarz: Magnus Carlsen (Norwegen)

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.O-O Le7 6.d3 b5 7.Lb3 d6 8.a3 O-O 9.Sc3 Sa5 10.La2 Le6 11.b4 Sc6 12.Sd5 Sd4 13.Sg5 Lxd5 14.exd5 Sd7 15.Se4 f5 16.Sd2 f4 17.c3 Sf5 18.Se4 De8 19.Lb3 Dg6 20.f3 Lh4 21.a4 Sf6 22.De2 a5 23.axb5 axb4 24.Ld2 bxc3 25.Lxc3 Se3 26.Tfc1 Txa1 27.Txa1 De8 28.Lc4 Kh8 29.Sxf6 Lxf6 30.Ta3 e4 31.dxe4 Lxc3 32.Txc3 De5 33.Tc1 Ta8 34.h3 h6 35.Kh2 Dd4 36.De1 Db2 37.Lf1 Ta2 38.Txc7 Ta1

Notation – Tiebreak 4:

Weiß: Magnus Carlsen (Norwegen)
Schwarz: Sergej Karjakin (Russland)

1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.f3 e5 6.Sb3 Le7 7.c4 a5 8.Le3 a4 9.Sc1 O-O 10.Sc3 Da5 11.Dd2 Sa6 12.Le2 Sc5 13.O-O Ld7 14.Tb1 Tfc8 15.b4 axb3 16.axb3 Dd8 17.Sd3 Se6 18.Sb4 Lc6 19.Tfd1 h5 20.Lf1 h4 21.Df2 Sd7 22.g3 Ta3 23.Lh3 Tca8 24.Sc2 T3a6 25.Sb4 Ta5 26.Sc2 b6 27.Td2 Dc7 28.Tbd1 Lf8 29.gxh4 Sf4 30.Lxf4 exf4 31.Lxd7 Dxd7 32.Sb4 Ta3 33.Sxc6 Dxc6 34.Sb5 Txb3 35.Sd4 Dxc4 36.Sxb3 Dxb3 37.De2 Le7 38.Kg2 De6 39.h5 Ta3 40.Td3 Ta2 41.T3d2 Ta3 42.Td3 Ta7 43.Td5 Tc7 44.Dd2 Df6 45.Tf5 Dh4 46.Tc1 Ta7 47.Dxf4 Ta2+ 48.Kh1 Df2 49.Tc8+ Kh7 50.Dh6+

Endstand:

Magnus Carlsen gewinnt mit 9:7.

Modus des Tiebreaks:

Gespielt wurden vier Partien Schnellschach. Jeder Spieler erhielt 25 Minuten Bedenkzeit und 10 Sekunden pro Zug.