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Neue Kultur des Alterns: Ende Mai 2015 beendete diese 92-jährige Frau einen Marathon in knapp 7,5 Stunden.

Foto: AP/Nestor

Wien – Es soll ein Ort sein, wo sich demente Menschen wohl fühlen. Das "Alzheimer-Dorf" De Hogeweyk in den Niederlanden möchte seinen 150 Bewohnern vor allem eines bieten: Normalität. Sie können sich in der kleinen Siedlung mit Restaurant, Gratis-Supermarkt und Teich frei bewegen. Jede Wohngemeinschaft repräsentiert zudem einen Lebensstil – von städtisch bis handwerklich, von kulturell bis christlich orientiert. Man kocht gemeinsam und trägt je nach individuellen Fähigkeiten zur Hausgemeinschaft bei. Das Dorf, das nun schon einige Jahre besteht, ist Vorbild für ähnliche Pflegeprojekte überall auf der Welt.

Der Trend zu neuen individuellen Wohnkonzepten im Alter, der sich auch in Konzepten wie jenem von De Hogeweyk abbildet, ist für Franz Kolland, Gerontologe und Soziologe an der Universität Wien, ein Indiz für einen Paradigmenwechsel im Blick auf die späte Lebensphase des Menschen: kulturelle Elemente und individuelle Formen der Altersgestaltung rücken stärker in den Fokus. Alter wird nicht mehr als biologische und soziale, sondern vor allem auch als kulturelle Tatsache gesehen. Diese Betrachtungsweise sieht "ältere Menschen als aktiv Handelnde, die auf die neue pluralistische Kultur der Gesellschaft sowohl reagieren als auch zu ihr beitragen", schreibt Kolland in seiner Studie "Neue Kultur des Alterns", die er für das Sozialministerium angefertigt hat.

Noch viel prägender als bei pflegebedürftigen Menschen ist der Trend natürlich bei jenen, die noch ohne Hilfe zurechtkommen. Die Pluralisierung und Individualisierung der Lebensmodellle gedeiht auf einer demographischen Grundlage mit einem großen Teil von 50- bis 80-Jährigen, die ihr Leben weitgehend ohne funktionale Einschränkungen verbringt.

Verjüngung des Alters

Und es kommen noch eine ganze Reihe von Faktoren hinzu. Seit den 1970er Jahren nehmen etwa Scheidungen älterer Paare zu, die trotz langer Ehezeit neue Lebensmodelle ausprobieren wollen, erläutert Kolland. Gleichzeitig habe eine Verjüngung des Alters stattgefunden, wobei etwa bereits 45-Jährige mit einer Rolle als Großeltern zurecht kommen müssen.

Ein weiterer, oft wenig beachteter Umstand sei, dass das Alter vorwiegend weiblich sei. Durch ihre höhere Lebenserwartung gibt es eine verhältnismäßig hohe Anzahl von allein lebenden Frauen im hohen Alter. "Ein kulturelles Muster, wonach sich diese Frauen nach dem Ableben ihrer Partner erneut in eine Beziehung begeben, fehlt weitgehend."

Dieser Strukturwandel brachte eine Vorstellung mit sich, dass Alter nicht nur ein biologisches, sondern auch ein sozial konstruiertes Faktum ist. Ernährung, Bewegung oder soziale Kontakte moderieren und modifizieren es. Dass sich die soziale Normierung als "Alte" oder "Pensionisten" langsam zugunsten einer Pluralisierung der Lebensmodelle auflöst, habe laut Kolland damit zu tun, dass ältere Menschen nicht mehr so stark in Familie und Religion verorten.

Wo kommen aber die Rollenzuschreibungen her, wenn sie nicht mehr aus Familie, Religion oder Arbeitsleben kommen? Aus der Konsumwelt, ist für Kolland klar. "Die Knickerbocker sind dem Nordic-Walking-Outfit gewichen." Durch die Entwicklung von Assistenzsystemen für Ältere kommen sogar neue Technologien durch sie in die Gesellschaft.

Neuverortung

Der neu entstandene Freiraum werde aber auch genutzt, um sich selbst neu zu verorten: Man startet Bildungsprozesse, gestaltet Neuentwürfe oder engagiert sich in der Freiwilligenarbeit. Der oft gehörte Spruch "Das zahlt sich für mich nicht mehr aus" wird rarer.

Ein zentraler Begriff auf subjektiver Ebene ist die Lebenserfahrung. Der Begriff ist sehr ambivalent, sagt Kolland. Einerseits nutzen wir Erfahrungen, um unser Leben zu steuern. Andererseits kann sie uns erstarren lassen, indem sie Routinen begünstigt. "Es ist gut, Irritation zu suchen, weil sie uns beweglich halten", sagt der Altersforscher. Kleinigkeiten, wie ein anderer Weg zum Supermarkt, könnten da schon hilfreich sein. "Nur wenn wir neue Wege gehen, gibt es auch einen neuen Weg des Alters."

Kolland richtet sich aber auch gegen einen Zwang zu Aktivität: "Der Pensionistengruß von heute lautet: Ich habe keine Zeit. Nach dem Motto: Wer nicht geschäftig erscheint, hat schon verloren." Als Gegenkonzept haben Gerontologen den Begriff der "Alters-Coolness" geprägt. "Dahinter steht der Gedanke, dass man im Alter zu einer Lebensqualität gelangen kann, die abseits von Leistungsethik steht", so Kolland. Man könne etwa auch Selbstironie und Humor kultivieren.

Letzten Endes muss man für sich die richtige Waage finden. Kolland schlägt "drei AAAs" vor, die neben Aktivität auch auf die Wichtigkeit von Autonomie und Anerkennung verweisen. "Man darf Aktivitäten nicht machen, weil man soll, sondern weil man selbst Sinn darin sieht. Und man braucht den anderen, ein soziales Umfeld, dazu." (Alois Pumhösel, 3.12.2016)