Ambivalenz ist vielleicht der einzige Begriff, anhand dessen sich komplexer strukturierte Menschen – historische Figuren zumal – auslegen lassen. Die Frage dabei ist, ob das Pendel eher auf die helle oder auf die dunkle Seite in der historischen Bewertung einer Persönlichkeit ausschlägt. Auch bei Fidel Castro, der mit seinem Tod endgültig Geschichte ist, fällt es nicht leicht, einen politischen Saldo zu bilden. Aber immerhin: Der Máximo Líder weilte lange genug unter den Lebenden, dass ihn nun tatsächlich die "Geschichte richten" kann, wie er es selbst nach dem misslungenen Angriff auf die Moncada-Kasernen 1953 zu Protokoll gab.

Castro oszillierte zwischen Heldenfigur und Tyrannen, zwischen revolutionärem Mythos in Tarnuniform und altersstarrsinnigem Greis in bizarren Trainingsanzügen. Seine Leistung war es, das durch und durch korrupte Regime des Diktators Fulgencio Batista von der Insel zu jagen. Auf der Sollseite seiner Bilanz stehen eine ebenso harte Diktatur unter der Flagge eines zuckersüßen karibischen Kommunismus, die Kubakrise, persönliche Bereicherung wie wirtschaftlicher Niedergang eines eigentlich reichen Landes und – vielleicht am schlimmsten – der über Jahrzehnte begangene Freiheitsraub an den Kubanern. Daran konnten auch die "guten" Seiten des Systems nichts ändern – die hohe Bildung etwa, die Castro mit atemberaubendem Zynismus so kommentierte: "Die größte Errungenschaft bei uns ist, dass selbst die Prostituierten Universitätsabschlüsse haben."

Die Revolution, sagte deren Führer in einer seiner enervierend langen Reden, sei kein Bett aus Rosen. Sie sei vielmehr ein Kampf zwischen der Zukunft und der Vergangenheit. Diesen hat Castro schon früh in seinen revolutionären Jahren verloren, als er vom Kämpfer gegen die Unterdrückung selbst zu einem Unterdrücker wurde. Tausende politische Gegner ließ er einsperren, nicht wenige Gesinnungsgefangene kamen in seiner "Obhut" ums Leben. Das hinderte die linke Ikonografie nicht daran, ihn zum Säulenheiligen des Antiamerikanismus auszurufen. Verehrer in Europa ließen ihm deshalb kritiklos alles durchgehen, Epigonen in Lateinamerika wie der absonderliche Hugo Chávez in Venezuela ruinierten ihre Länder nach Castros Vorbild.

Es mag Zufall sein oder nicht, aber der zeitliche Zusammenfall ist bedeutsam: Mit dem kubanischen Revolutionsführer ist der letzte Akteur aus dem Kalten Krieg verschieden. Und zwar akkurat in dem Augenblick, in dem sich viele in der neuen Weltunordnung beinahe an die bipolare "Idylle" nuklearer Konfrontation zwischen Amerikanern und Sowjets zurücksehnen, um damit zumindest ein wenig Interpretationsrahmen für den inzwischen oft unergründlich scheinenden Weltenlauf zu haben.

Aber wie der Comandante selbst dürfen politisch Verantwortliche anderswo nicht die Zukunft verspielen. Die Regierung Obama hat die längst fällige Öffnung gegenüber Kuba vollzogen. Trotz der weiterhin bestehenden Diktatur unter Fidels Bruder Raúl Castro geht es den Kubanern nach einigen Jahren ökonomischer Öffnung besser, nicht zuletzt wegen der Geldüberweisungen von Landsleuten aus den USA. Inzwischen haben sogar 31 Prozent von ihnen Internetzugang.

Castros Tod ist ein erster Test für den designierten US-Präsidenten Donald Trump. Es liegt an ihm, ob er die Diktatur auf Kuba durch Konfrontation stärkt oder das Land weiter öffnet. (Christoph Prantner, 27.11.2016)