Der österreichische Supergroßmeister Markus Ragger analysiert.

Österreichischer Schachbund

Weltmeister Magnus Carlsen ging mit Weiß in die zehnte Partie gegen Sergej Karjakin.

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Nach 15.Lc4: Worüber denkt Sergej Karjakin hier und im nächsten Zug 45 Minuten lang nach?

Grafik: jinchess.com

Nach 20.Sd2: Beide Spieler übersehen das Dauerschach nach 20…Sxf2+.

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Nach 42.Tf3: Weiß hat Raumvorteil, Schwarz steht sehr passiv.

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Nach 75.Kf6: Schwarz kann den Bauern h5 nicht halten und gibt deshalb auf.

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Die zehnte Partie im Schnelldurchlauf.

New York – In den USA wurde an diesem Donnerstag Thanksgiving, das amerikanische Erntedankfest, gefeiert, die Straßen New Yorks waren wie leergefegt. Für die Schach-WM allerdings durchaus kein Grund, eine Pause einzulegen. Magnus Carlsen und Sergej Karjakin verzehren gemeinsam keinen Truthahn, angerichtet ist nur für die zehnte Partie, in der der Weltmeister zum vorletzten Mal in diesem Match die weißen Steine führt.

Heute, das weiß der Norweger, das weiß auch sein russischer Herausforderer, ist es gewissermaßen fünf vor zwölf für Carlsen. Er liegt mit einem Punkt zurück, wenn er es nicht auf die allerletzte Weißpartie ankommen lassen will, muss er jetzt den ersten Sieg in diesem Match einfahren. Umgekehrt würde ein weiteres Remis Karjakin der Sensation einen riesigen Schritt näher bringen.

Karjakins Grübeln

Der Bedeutung der Partie entsprechend entwickelt sich das Spiel langsam und schwerblütig. Carlsen hat wieder einmal früh einen seltenen Zug eingestreut, um Karjakin aus seiner Vorbereitung zu werfen. Das scheint gelungen – ob die Stellung dem Weltmeister deshalb Vorteil verspricht, ist allerdings eine ganz andere Frage.

Zunächst macht es nicht diesen Eindruck. Der Schwarze hat mit seinem starken Springer auf f4 das lange Ende der Wurst erwischt, Carlsen muss mit 13.g3 erst einmal die weißen Felder um seinen König schwächen, das sieht etwas ungemütlich aus. Aber während der Weltmeister seinen weißfeldrigen Läufer schrittweise zurück ins eigene Lager dirigiert, verfällt Karjakin plötzlich in unerwartet langes Grübeln.

Ganze 45 Minuten Bedenkzeit verbraucht der Russe für die Züge 15 und 16. Fühlt er sich plötzlich unwohl, oder sieht er so viele spannende Möglichkeiten, dass er sich nicht entscheiden kann? Alle ahnen, dass dem Herausforderer die hier verbrauchte Zeit später noch fehlen wird – die einen befürchten es, andere sehen plötzlich die Chancen für ihr norwegisches Idol steigen.

Dauerschach

Schon im 19. Zug scheinen sich all diese Erwägungen jedoch zu erübrigen. Gerade als man geneigt war, dem Weltmeister einen leichten Positionsvorteil zuzubilligen, spielt Carlsen nämlich genau den Zug, von dem Judit Pólgar im WM-Studio soeben erläutert hat, dass er forciert ins Remis führt: 19.Lxe6. Karjakin nimmt folgerichtig mit dem f-Bauern zurück, Carlsen muss seinen Springer von f3 abziehen.

Dafür aber lässt sich der Weltmeister nun Zeit. Seine Körpersprache verrät, dass er vorher einen recht simplen Trick übersehen hat und ihm plötzlich Übles schwant: Karjakin kann im nächsten Zug einen nur scheinbar vergifteten Bauern auf f2 mit dem Springer schlagen und Schach bieten. Nach 21.Kg2 würde sich dann der andere schwarze Springer mit Schachgebot auf h4 opfern. Weiß darf das Danaergeschenk wegen Dg6 nicht annehmen, zieht er aber den König weg, endet die Partie im ewigen Schach.

Als sich die Journalisten, den Remisschluss vor Augen, bereits für die Pressekonferenz in Stellung bringen, überrascht Karjakin das gesamte Auditorium und seinen Gegner noch dazu: Er schlägt die Stellungswiederholung aus, schiebt stattdessen einen Bauern ins Zentrum. Hat er den Trick etwa auch übersehen? Oder kann es sein, dass der Herausforderer mit Schwarz heute mehr will? Keiner weiß es zu sagen, sicher ist nur: Die Partie, die gerade schon beendet schien, beginnt unerwartet ein zweites Mal.

Carlsens dritte Chance

Und dem Weltmeister fließen sichtlich neue Kräfte zu. Der schwarze Doppelbauer auf der e-Linie verheißt ihm plötzlich spürbaren Stellungsvorteil, jetzt heißt es, daraus etwas Zählbares zu machen. Immerhin handelt es sich um jenen Stellungstyp, in dem Carlsen sich wie ein Fisch im Wasser fühlt: Seine Figuren stehen im entstandenen Endspiel aktiver, er hat mehr Raum, Schwarz muss mehrere Schwächen zugleich verteidigen.

Zweimal hat Carlsen seinen Gegner bei dieser WM allerdings schon aus ähnlichen Ruinen entwischen lassen – vollbringt Karjakin das Kunststück an diesem Tag ein drittes Mal, dürfte es Carlsen schwerfallen, sich davon im Angesicht des Gesamtscores noch einmal zu erholen. Während Carlsen die schwarzen Schwächen zu belagern beginnt, reift ein vorentscheidender Moment dieser WM heran.

Und der Sieg ist für den Norweger auch heute wieder nicht so einfach zu erzwingen. Zwar hat er klaren, brettumspannenden Vorteil, aber der Herausforderer kann immer gerade noch eine Figur dazwischenwerfen, wenn Carlsen sich anschickt, in einem Bereich des Spielfelds entscheidend durchzubrechen.

Erntezeit

Als langsam Zweifel aufkommen, ob die Stellung bei bester schwarzer Verteidigung – und nichts anderes erwartet man von Sergej Karjakin mittlerweile – für den Weißen zu gewinnen ist, unterläuft dem Herausforderer der entscheidende Schnitzer. Einen Zug lang stehen sich seine Figuren gleichsam selbst im Weg, Carlsen lässt sich nicht lange bitten und öffnet das Spiel.

Wenige Züge später schnupft der Weltmeister einen schwarzen Bauern auf, die Bewertung der mitrechnenden Computer-Engines schnellt in die Höhe. Rasch wird klar: Selbst ein Truthahn hat heute bessere Überlebenschancen als Sergej Karjakin in diesem kaputten Endspiel. Mit ein paar präzisen Manövern fährt der Weltmeister die Ernte ein, nach 75 Zügen kapituliert der Herausforderer im Angesicht des baldigen Verlusts eines zweiten, entscheidenden Bauern.

In der anschließenden Pressekonferenz ist Magnus Carlsen plötzlich gar nicht mehr so wortkarg wie an den Tagen zuvor, Gewinnen macht dem Norweger offensichtlich Spaß. Der Weltmeister spricht von der für ihn ungewohnten Situation, neun Partien lang keinen Sieg verbuchen zu können, die nun endlich überwunden ist. Carlsen scheint schwer gelitten zu haben.

Alles wieder offen

Und Karjakin? Der muss ordentlich schlucken, als ihm der verpasste Remisschluss durch Dauerschach präsentiert wird. Die Rolle des schlechten Verlierers gedenkt der Russe von Carlsen aber offenbar nicht zu übernehmen, tapfer steht er alle Journalistenfragen durch. Immerhin ist Karjakins Frau heute im Big Apple angekommen, sie hat sich den richtigen Zeitpunkt ausgesucht, um ihrem müden Krieger beizustehen.

Auch wenn Carlsen nach seinem ersten Sieg nun psychologisch im Vorteil scheint: Mit nur noch zwei zu spielenden Partien ist in diesem Match wieder alles offen. Der Druck auf beide Spieler steigt mit jeder Runde.

Am Freitag wird pausiert, am Samstag führt Sergej Karjakin zum letzten Mal die weißen Steine. Es steht 5:5. (Anatol Vitouch aus New York, 25.11.2016)

Notation der zehnten Partie
Weiß: Magnus Carlsen (Norwegen)
Schwarz: Sergej Karjakin (Russland)

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 Sf6 4.d3 Lc5 5.c3 O-O 6.Lg5 h6 7.Lh4 Le7 8.O-O d6 9.Sbd2 Sh5 10.Lxe7 Dxe7 11.Sc4 Sf4 12.Se3 Df6 13.g3 Sh3+ 14.Kh1 Se7 15.Lc4 c6 16.Lb3 Sg6 17.De2 a5 18.a4 Le6 19.Lxe6 fxe6 20.Sd2 d5 21.Dh5 Sg5 22.h4 Sf3 23.Sxf3 Dxf3 24.Dxf3 Txf3 25.Kg2 Tf7 26.Tfe1 h5 27.Sf1 Kf8 28.Sd2 Ke7 29.Te2 Kd6 30.Sf3 Taf8 31.Sg5 Te7 32.Tae1 Tfe8 33.Sf3 Sh8 34.d4 exd4 35.Sxd4 g6 36.Te3 Sf7 37.e5+ Kd7 38.Tf3 Sh6 39.Tf6 Tg7 40.b4 axb4 41.cxb4 Sg8 42.Tf3 Sh6 43.a5 Sf5 44.Sb3 Kc7 45.Sc5 Kb8 46.Tb1 Ka7 47.Td3 Tc7 48.Ta3 Sd4 49.Td1 Sf5 50.Kh3 Sh6 51.f3 Tf7 52.Td4 Sf5 53.Td2 Th7 54.Tb3 Tee7 55.Tdd3 Th8 56.Tb1 Thh7 57.b5 cxb5 58.Txb5 d4 59.Tb6 Tc7 60.Sxe6 Tc3 61.Sf4 Thc7 62.Sd5 Txd3 63.Sxc7 Kb8 64.Sb5 Kc8 65.Txg6 Txf3 66.Kg2 Tb3 67.Sd6+ Sxd6 68.Txd6 Te3 69.e6 Kc7 70.Txd4 Txe6 71.Td5 Th6 72.Kf3 Kb8 73.Kf4 Ka7 74.Kg5 Th8 75.Kf6

Es steht 5:5.

Weiterer Spielplan:
26.11.2016: Partie 11
28.11.2016: Partie 12
30.11.2016: Tiebreaks

Modus:
Die WM geht über maximal zwölf Partien und endet vorzeitig, wenn ein Spieler 6,5 Punkte erreicht. Bei Gleichstand nach zwölf Partien gibt es ein Tiebreak mit verkürzter Bedenkzeit.