Von Hömerl gibt es kein Foto. Das ist Balkansky am Tag danach.

Foto: privat

Ich bin so einer, der selbst bei sommerlicher Gluthitze mit Mormonen über Jesus redet und sogar die Zeugen Jehovas hereinbittet, wenn sie anklopfen. Nur weil es mich amüsiert, von Menschen, die ihren Kinden lebensrettende Bluttransfusionen verweigern, gefragt zu werden, woher ich als Atheist meinen moralischen Kompass hernehme. Und dann treffe ich Hömerl, den liberalen Nazi.

Ein rauchiger Abend

Es ist nur ein Zufall. Ich treffe Hömerl bei einer Veranstaltung über Frauen, die ihr Kopftuch ablegen wollen, aber nicht dürfen. Angeblich sind es Millionen. Als er das Mikro bekommt, stellt er der freiwilligen Kopftuchträgerin auf dem Podium eine Frage, die meine Aufmerksamkeit erregt: "Sie sagten, das Kopftuchtragen sei nirgends im Heiligen Buch zu finden, weswegen es nicht Teil der Ideologie sein kann. In Hitlers 'Mein Kampf' steht nichts davon, dass man die Juden umbringen soll. Würden Sie auch sagen, dass der Holocaust nichts mit der Ideologie des Nationalsozialismus zu tun hat?"

Kaum ist seine Stimme verhallt, schwellen Buhrufe und Pfiffe in seine Richtung an. In diesem Augenblick ist Hömerl die Hassgestalt von mindestens einer Hundertschaft Besucher. Die freiwillige Kopftuchträgerin grinst selbstgerecht, der Moderator schüttelt den Kopf. Trotzdem steht er aufrecht und wartet geduldig auf eine Antwort. Die er nicht bekommt. Fast habe ich Mitleid mit Hömerl.

Draußen spreche ich ihn an. Fünf Minuten später sitzen wir auf einer Parkbank und rauchen einen Joint. Sechs Minuten später erfahre ich, dass Hömerl kein religionskritischer, feministischer Linker ist, sondern Dermatologe. Und liberaler Nazi.

Hömerl – und wie er die Welt sieht

Weil ich neugierig bin, will ich nun mehr darüber wissen, wie ein "liberaler Nazi" tickt. Und was er zum Leberfleck auf meinem Rücken zu sagen hat. Also beschließe ich, Hömerl noch einmal zu treffen. In seinem eigenen Museum antiker Motorräder.

Er sitzt im Sattel einer Indian, ich in dem einer Triumph, wir trinken Margaritas. Naheliegend frage ich Hömerl nach dem Holocaust. "Ein furchtbares Verbrechen!", sagt er, "dafür kann man sich als aufrechter, liberaler Nationalsozialist gar nicht genug schämen und entschuldigen!" Weil meine Kinnlade bis zum Kickstarter der Triumph herunterhängt, fährt Hömerl fort. "Der Chef einer der größten ideologischen Gemeinschaften der Erde hat sich auch geschämt und entschuldigt: für die Kreuzzüge, für den Antisemitismus, für die Missachtung der Frauen, das Schänden von Kindern, das Schweigen zum Holocaust, die Zwangsbekehrung von orthodoxen Christen, Lateinamerikanern und Afrikanern ... Wieso klatschen alle, wenn sich der Papst für die Verbrechen seiner Leute entschuldigt, aber wenn das ein liberaler Nationalsozialist sagt, lacht man ihn höchstens aus?"

Zum ersten Mal in meinem Leben weiß ich nicht so recht, was ich einem Nazi entgegnen soll. Er sagt "Afrikaner", als ob er grünes Gutmenschen-Urgestein wäre. Also frage ich Hömerl nach der Rassenideologie der Nazis. Er tippt mit dem Zeigefinger auf die Stirn: "Wissenschaftlich nicht haltbar! Wir sind alle aus Afrika, das ist eine genetische Gewissheit!" Darauf komme es aber nicht an – es komme nur darauf an, was man mit dem Geschenk der Zivilisation später gemacht habe. Ich wittere eine Chance: "Du meinst Antisemitismus und Zweiten Weltkrieg?" Aber Hömerl überrascht mich wieder ...

Die Nazi-Bibel

Der Nationalsozialismus – so antwortet mir Hömerl – sei nicht die einzige antisemitische Ideologie, auch andere Weltanschauungen fordern von ihren Anhängern eine gesellschaftspolitische Abgrenzung von Juden. Als Beispiel nennt Hömerl zwei in Österreich anerkannte religiöse Ideologien, deren eine erst 1962 den institutionalisierten Antisemitismus aus ihrem Programm wirft, fast 2.000 Jahre nach ihrer Gründung. Und weil er es offenbar amüsant findet, dass ich "Mein Kampf" konsequent als "Nazi-Bibel" bezeichne, sagt Hömerl: "In der Nazi-Bibel (er grinst) steht nur, man solle die Juden meiden – nicht, sie totschlagen!"

Hömerl und seine "Liberalen Nationalsozialisten" wollen bloß nicht Juden heiraten, mit ihnen Kinder zeugen, Geschäfte tätigen. Als Nachbarn seien sie zwar willkommen, aber als Hausfreunde unerwünscht. Eine Kopfsteuer für Juden, also eine Art Nazi-Dhimma, lehnt Hömerl kategorisch ab, auch wenn er es durchaus überlegenswert findet, Juden zu verbieten, nichtjüdische Arbeitnehmer zu beschäftigen, wie das in einigen Ländern noch immer gängige Rechtspraxis sei. Heiratsverbot hingegen sei eine schlichte Notwendigkeit im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Völker – und ebenfalls in einigen Ländern noch immer gängige Rechtspraxis.

Was den Zweiten Weltkrieg betrifft, ist Hömerl ein Pragmatiker: "Hitler hätte rechtzeitig aufhören sollen! Rheinland, Ostmark, Sudetenland! Ohne einen einzigen Schuss! Das hätte reichen müssen! Hitler war nicht unfehlbar, und seine Berater waren nicht gerade das Gelbe vom Ei!" Zum Thema Skinhead-Nazismus sagt er nur zwei Worte: "Hirnamputierte Brutalos." Die Skin-Nazis sind bei Hömerl nur Extremisten, die den Nationalsozialismus missverstehen und/oder missbrauchen, und die allermeisten von ihnen sind Kleinkriminelle, die sich zu Rettern und Rächern des Nationalsozialismus aufschwingen. Echte liberale Nazis hingegen seien gegen Gewalt, achten die Gesetze des Landes, in dem sie leben, und wollen nur, dass ihre Weltanschauung akzeptiert und toleriert wird, um die Gesellschaftspolitik friedlich mitgestalten zu können. "Ist das zu viel verlangt?", fragt Hömerl und hebt sein Glas an die Lippen.

Katerfrühstück

Am nächsten Tag passt mein Kopf nicht mehr durch das Fenster ins Draußen, wo Sauerstoff ist. Also frühstücke ich Kaffee und Joint. Bald geht es mir besser. Aber Hömerl bleibt noch eine Weile in meinem Kopf. Ist die letzte Nacht nur eine Halluzination? Pilze oder Trips werfe ich schon seit Jahren nicht mehr ein. Außer zu Ostern und zu Weihnachten. Oder ist bloß die Realität so wunderbar widersprüchlich, wie ich es hoffe, weil eine Welt ohne Widersprüche langweilig, ja, tot wäre?

Ist es etwa nicht Teil dieser wunderbar widersprüchlichen Realität, dass wir den britischen Holocaust-Leugner David Irving mit Polizeigewalt aus dem Land werfen, bevor er auch nur den Mund aufmacht, um den Holocaust zu leugnen – während wir gleichzeitig ein Dialogzentrum errichten, das einzig dem Monolog von Männern gewidmet ist, die Frauen verbieten, ein Automobil zu steuern, und freitags Menschen öffentlich köpfen? Ist es nicht Teil dieser wunderbaren Realität, dass wir Ideologien tolerieren und akzeptieren, sogar mit Steuergeld unterstützen, die medizinisch nicht notwendige Eingriffe an Kindern als Recht einfordern – während wir gleichzeitig eine Ideologie tolerieren und akzeptieren, die das Recht einfordert, Kindern medizinisch notwendige Eingriffe zu verweigern?

Vielleicht ist Hömerl nur ein Irrer, das Einzelexemplar einer Spezies, die es gar nicht gibt. Außer in Hömerls Kopf. Und in meinem. Es gibt nur eine Gewissheit: Die Opfer mörderischer Nazis, die Flüchtlingsheime anzünden, sind real – genauso real wie die Opfer von Genitalverstümmelung, Todesstrafe, Antisemitismus und Misogynie anderer Ideologien. Wer das nicht sehen will, ist womöglich ein "extremistischer Chamberlainist".

Mein Leberfleck am Rücken – so sagt mir Hömerl zum Abschied – sei ganz harmlos. Na, wenigstens das. (Bogumil Balkansky, 23.11.2016)