Markus Ragger: "Carlsen ist in der achten Partie definitiv ein hohes Risiko eingegangen, an mehreren Stellen."

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Der zähe Sergej Karjakin (rechts) treibt Weltmeister Magnus Carlsen zur Verzweiflung. Nach acht von zwölf Partien führt er mit 4,5:3,5 Punkten.

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Wien – Am Mittwoch steigt in New York die neunte Partie der Schach-Weltmeisterschaft zwischen Titelverteidiger Magnus Carlsen und Herausforderer Sergej Karjakin.

Nach acht Begegnungen liegt Karjakin mit 4,5:3,5 Punkten voran. Das überrascht auch den österreichischen Großmeister Markus Ragger.

STANDARD: Nach sieben Remis hat der russische Herausforderer Sergej Karjakin den ersten Sieg eingefahren. Ist das eine Vorentscheidung im Titelkampf?

Ragger: Nein, davon kann noch keine Rede sein. Es gibt genug Beispiele von WM-Partien, die erst in der letzten Begegnung entschieden wurden. Aber die Vorzeichen haben sich verändert. Karjakin hat nun eine realistische Chance, Weltmeister zu werden.

STANDARD: Sie wirken überrascht.

Ragger: Das bin ich auch. Magnus Carlsen war vor dem Turnier der klare Favorit und die ersten Tage haben diese Einschätzung eher bestärkt. Ich hätte nicht gedacht, dass Karjakin eine Partie gewinnen kann. Ich sah eher Carlsen im Finish einen Sieg einfahren und souverän ins Ziel gehen. Jetzt aber sind die Rollen vertauscht. Es ist für beide Spieler eine völlig neue, spannende Situation.

STANDARD: Wurde der Herausforderer allgemein unterschätzt?

Ragger: In der sechsten und siebenten Partie hätte man sich einen Angriff erwartet. In beiden Partien spielte Karjakin mit Weiß. Aber da hat er gar nichts herausgeholt, die Partien verliefen ereignislos. Der anschließende Sieg mit Schwarz war nicht zu erwarten.

STANDARD: Ist es denkbar, dass Karjakin eine größer angelegte Strategie verfolgt?

Ragger: Vielleicht wollte er mit der Remis-Serie die Anspannung steigen lassen. Mit jeder Partie wächst der Druck auf den Titelverteidiger, alle wollen einen Sieger sehen. Carlsen ist in der achten Partie definitiv ein hohes Risiko eingegangen, an mehreren Stellen.

STANDARD: Kann Defensivkünstler Karjakin die restlichen vier Partien einfach Remis nachhause spielen?

Ragger: Mit Weiß kann er das Spiel natürlich so anlegen, damit ist in der nächsten Partie auch zu rechnen. Spielt er mit Schwarz, kann Carlsen die Richtung bestimmen, das Risiko höher schrauben.

STANDARD: Wird sich der Charakter der Partien nun ändern, muss der Norweger noch mehr Offensivgeist zeigen?

Ragger: Die nächsten beiden Partien werden ähnlich verlaufen wie bisher. Karjakin wird ruhig agieren. Carlsen wird versuchen zu gewinnen, aber noch nichts Drastisches probieren. Sollte er dann noch immer zurückliegen, stellt sich die Frage, ob er alles auf die zwölfte und letzte Partie mit Weiß setzt, oder ob er schon in der elften Partie mit Schwarz riskiert.

STANDARD: Karjakin meinte schon vor der WM, Carlsen müsste sein bestes Schach zeigen, um ihn zu bezwingen. Spielt der Weltmeister auf seinem höchsten Niveau?

Ragger: Die ersten Partien waren intensiv, nun machen sich die Anstrengungen allmählich bemerkbar. Schach hat sich in den letzten Jahren unglaublich entwickelt. Man merkt doch, dass der Druck der Weltmeisterschaft auf den Spielern lastet.

STANDARD: Sie haben sich schon mit beiden gemessen. Wie verliefen die Begegnungen?

Ragger: Gegen Carlsen habe ich zwei Mal verloren, einmal im klassischen Schach und einmal bei der Weltmeisterschaft im Blitzschach. Gegen Karjakin habe ich im Nachwuchs zwei Mal Remis gespielt. Er ist zwei Jahre jünger als ich, es war schon damals absehbar, dass er ein Star wird. (Philip Bauer, 23.11.2016)