Bild nicht mehr verfügbar.

Rote und weiße Blutkörperchen: Zuletzt wurde praktisch das gesamte blutbildende System des erkrankten Jungen ausgetauscht.

Foto: Picturedesk

Wien – Es war ein echter Leidensweg. Sein ganzes bisheriges Leben lang hatte den Buben ein ganzer Katalog verschiedener Krankheitsbilder geplagt. Besonders häufig befielen ihn Infektionen, aber auch sein Wachstum blieb zurück. Im Alter von zwölf Jahren erlitt der Junge zum wiederholten Male eine Lungenentzündung. Er wurde in einem Spital in Ankara behandelt, wo man ihm Immunglobuline verabreichte – zur passiven Unterstützung seiner körpereigenen Abwehr. Eine dauerhafte Lösung konnte dies gleichwohl nicht sein. "Kein Mensch wusste genau, was dieses Kind hat", erzählt Kaan Boztug, Arzt und Forscher am Zentrum für Molekulare Medizin (CeMM) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Boztugs türkische Kollegen sahen jedoch einen möglichen Hintergrund. Die Eltern des ursprünglich aus Ostanatolien stammenden Buben sind miteinander verwandt, und drei seiner älteren Geschwister waren bereits im frühkindlichen Alter gestorben. So ergab sich der Verdacht auf eine genetisch bedingte Störung.

Cousinenehen kommen in der Türkei und der arabischen Welt noch genauso vor wie einst in Europa. Die Habsburger und andere Herrscherhäuser bieten dafür beste Beispiele. Aus medizinischer Sicht haben solche Verbindungen allerdings einige Nachteile. Beim Nachwuchs treten vermehrt autosomal rezessive Krankheiten auf. Mit anderen Worten: Gewisse genetische Defekte können sich leichter durchsetzen. Autosomal heißt, dass eine bestimmte Erbgutsequenz nicht auf einem der Geschlechtschromosomen X oder Y gespeichert liegt. Dank seines doppelten Chromosomensatzes verfügt der Mensch über zwei Kopien aller autosomalen vererbten Gene. Rezessive Eigenschaften kommen nur dann zur Geltung, wenn beide Codes vom gleichen Typ sind.

Ist ein Gendefekt in einer Familie einmal vorhanden, erhöht sich durch Verwandtenpaarung die Chance auf ein Zusammentreffen zweier abweichender Codes. Eine derartige Kopplung vermuteten die Mediziner im Fall des chronisch kranken Jungen.

Gründliche Genom-Analyse

Um der Sache genauer auf den Grund zu gehen, riefen sie bei Kaan Boztug in Wien an. Der Kinderarzt ist ein weltweit anerkannter Experte für die Erforschung von seltenen Erbkrankheiten – solchen, die in der Bevölkerung bei weniger als einer von 2000 Personen auftreten. Am CeMM machte man sich an die Arbeit, weitere Fachleute aus der Türkei, den USA, Großbritannien und Frankreich kamen hinzu. "So etwas kann kein Forscher allein bewältigen", betont Boztug. In der Wissenschaft ist internationale Zusammenarbeit längst unverzichtbarer Alltag. Eine gründliche Genom-Analyse sollte Aufschluss über die Krankheitsursache beim jungen Patienten liefern. Da er häufig unter Infektionen litt, vermutete man einen vererbten Defekt im Immunsystem.

Die Untersuchungsergebnisse lieferten allerdings keine Hinweise auf bekannte, immunologisch relevante Abweichungen. Stattdessen stießen die Forscher auf eine Mutation im Gen RASGRP1. Die übliche Gensequenz wird beim besagten Buben auf beiden Chromosomen durch ein Stopp-Signal unterbrochen. Das RASGRP1-Protein lässt sich dadurch nicht in vollständiger Form fertigstellen, und drastisch verkürzte Eiweißmoleküle können die Zellen nicht gebrauchen. "Sie werden von anderen Enzymen direkt wieder verschrottet", erklärt Kaan Boztug.

Das Fehlen von RASGRP1 hat gravierende Auswirkungen auf das Immunsystem, wie die Forscher anhand von weiteren Tests feststellten. Zum einen aktiviert das Protein weitere Enzyme aus der RAS-MAPK-Gruppe. Letztere spielen eine wichtige Rolle in der Aufrechterhaltung von Signalketten in T- und B-Zellen. Ohne sie bekommt die Immunabwehr Schwierigkeiten bei der Erkennung ihrer Angriffsziele. Die Studie zeigt aber noch einen weiteren Effekt auf. "Offenbar haben auch die natürlichen Killerzellen ein Problem", meint Boztug.

Mikro-Terminator

Solche Mikro-Terminatoren zerstören virusinfizierte sowie andere geschädigte Körperzellen. Sie heften sich an deren Oberfläche und attackieren sie aus kurzer Distanz mit biochemischen Kampfstoffen wie zum Beispiel Perforin. Die tödlichen Substanzen sind in sogenannten Granula verpackt. Diese Körnchen werden über das Zytoskelett, ein sich ständig anpassendes Gerüst aus Proteinfasern, zum Einsatz transportiert. In Ermangelung von RASGRP1 jedoch vermag sich das Zytoskelett anscheinend nicht normal im Zellinneren zu entfalten (vgl.: Nature Immunology, Online-Vorabveröffentlichung). Die Folge: Die natürlichen Killerzellen können ihre Munition nicht laden.

Die Dynamik des Zytoskeletts ist zudem für die Mobilität der Immunzellen von entscheidender Bedeutung. Ohne Beweglichkeit keine effektive Verteidigung. Eine wesentliche Rolle spielt dabei das Enzym RhoA, und auch dieses wird wohl von RASGRP1 aktiviert. Die Forscher bekamen nun eine Idee. Sie brachten geschädigte T-Zellen des kranken Kindes in Kultur und setzten sie dem Medikament Lenalidomid aus. Der Wirkstoff wird häufig zur Stimulierung der Immunreaktion von Krebspatienten eingesetzt.

Der Plan ging auf. Lenalidomid ist offensichtlich in der Lage, die Funktion von RASGRP1 in der Aktivierung von RhoA zu ersetzen, die Zellen können sich wieder normal bewegen. "Das ist der Traum eines Wissenschafters", schwärmt Kaan Boztug, "nicht nur die Krankheit verstehen, sondern auch eine molekulare Behandlungsmöglichkeit erkennen."

Für den jungen türkischen Patienten war diese Art von Therapie allerdings nicht mehr angezeigt. Als man bei ihm, als Folge seiner wiederholten Virusinfektionen, ein gefährliches B-Lymphom entdeckte, musste er sich einer Knochenmarkstransplantation unterziehen. Praktisch sein gesamtes blutbildendes System wurde erneuert.

Der Gendefekt tritt dadurch womöglich nicht mehr in Erscheinung. Inzwischen ist der Betroffene 17 Jahre alt. "Es geht ihm einigermaßen gut", sagt Boztug – und hoffentlich bald noch besser. (Kurt de Swaaf, 27.11.2016)