In Istanbul und Ankara gingen in den letzten Tagen tausende Frauen aus Protest gegen das nun zurückgezogene Gesetz auf die Straßen.

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Ankara/Athen – Als Sümeyye Erdoğan neben ihm Platz nimmt, weiß der Minister, dass er ein Problem hat. Die 31-Jährige hat den politischen Killerinstinkt ihres Vaters geerbt, so heißt es. Auch Sümeyye Erdoğan ist gegen den Gesetzesentwurf des Justizministers, der die türkischen Frauen und die politische Opposition seit Tagen so aufbringt.

Zurückziehen oder verschieben, hört Bekir Bozdağ bei dem Krisentreffen mit den türkischen Frauenrechtlerinnen. Sümeyye Erdoğan ist Vizevorsitzende von Kadem, dem Verein für Frauen und Demokratie. Eine Amnestieregelung für Sex mit Kindern, wie sie der Justizminister propagiert, findet auch die Präsidententochter jenseitig.

Dienstagfrüh, wenige Stunden vor der Abstimmung im Parlament, ist der Gesetzesentwurf dann weg. Staatschef Erdoğan hat Minister und Partei zurückgepfiffen. Die Regierung möge auf die Kritik achten, die laut geworden sei, und sich um einen breiten Konsens bemühen, sagt er.

Weder die Familienministerin noch die Parlamentarierinnen der regierenden konservativ-islamischen AKP hatten von dem geplanten Gesetz offenbar Kenntnis. Der Justizminister und sechs AKP-Abgeordnete, die den Antrag unterschrieben, wollten eine Amnestie, die rückwirkend für etwa 3.800 inhaftierte Männer gelten sollte, die angeblich aus rechtlicher Unkenntnis Geschlechtsverkehr mit minderjährigen Mädchen gehabt hatten. Ihre Strafe sollte ausgesetzt werden, wenn sie die Minderjährigen heirateten. Die Gegner in der Türkei sahen darin eine Legalisierung von Vergewaltigung und der Kinderehen. Die Oppositionsparteien im Parlament forderten am Dienstag den kompletten Rückzug des Gesetzentwurfs.

Wieder Massenentlassungen

In der Nacht auf Dienstag ließ Staatschef Erdoğan zwei neue Notstandsdekrete veröffentlichen. Weitere 15.500 Staatsbedienstete wurden wegen angeblicher Verbindungen zur Bewegung des Predigers Fethullah Gülen entlassen, darunter auch Sprecher des staatlichen Fernsehens TRT; Gülen wird für den Putsch im vergangenen Juli verantwortlich gemacht. Auch die Schließung von weiteren 375 Vereinen sowie acht Regionalzeitungen und einem Radiosender wurde verfügt. Betroffen war davon auch eine Vielzahl kurdischer Jugend- und Bildungsvereine. Eine Liste mit 175 Vereinen, die wieder öffnen dürfen, war ebenfalls Teil der neuen Dekrete. Dazu gehörte eine Reihe von Umweltschutzvereinen und auch eine Vereinigung von Zahnärzten, die der Regierung verdächtig erschienen waren. Einen Haftbefehl erließ die Justiz gegen Salih Muslim, Vorsitzender der von den USA unterstützten syrisch-kurdischen Partei PYD. (Markus Bernath, 22.11.2016)