Exbundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) sei über die Instrumentalisierung der Übergriffe gegen Frauen in Köln zu Silvester 2015 gestolpert, meint Ruth Wodak.

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Laut der Sprachwissenschafterin Ruth Wodak hat das Erstarken der Antiausländerstimmung in Österreich in vergangenen Jahr und heuer seine Ursache unter anderem im Übernehmen von FPÖ-Diskursen durch die ÖVP. Die FPÖ selbst setze auf Nationalismus, eine Retrogenderpolitik und mache den durch das Schüren von Ängsten zunehmend verunsicherten Menschen uneinlösbare Versprechen. Politisches Opfer dieses Prozesses sei zum Beispiel Exbundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) gewesen. Er sei "über die Instrumentalisierung von und die damit einhergehende Heuchelei nach den Vorfällen zu Silvester 2015 in Köln" gestolpert. Auch bei der kommenden Hofburgwahl gehe es um Akzeptanz oder Ablehnung völkischer Positionen.

STANDARD: Kann man aus dem Sieg Donald Trumps bei den US-Präsidentschaftswahlen Schlüsse für die kommende Bundespräsidentenstichwahl in Österreich ziehen?

Wodak: Ich finde es auf alle Fälle sehr bedenklich, dass ein politisches Programm so viele Menschen überzeugen kann, das mit Ängsten, Unwahrheiten und dem uneinlösbaren Versprechen operiert, eine große Mauer zu einem Nachbarstaat zu bauen, noch dazu auf dessen Kosten.

STANDARD: Gibt es Ähnlichkeiten zwischen Trump und Hofer?

Wodak: Ja, in manchen Aspekten: Beide setzen auf Nationalismus, auf Antipluralismus und Anti-Establishment-Positionen, auf eine traditionelle Genderpolitik und verstärkte Law-and-Order-Rufe. Rechtspopulisten geben im Allgemeinen vor, für das einzig "wahre Volk" zu sprechen und dieses vor scheinbar großen Gefahren retten zu können. Dafür wird ein "Sündenbock" als Ursache allen Übels definiert, den man bekämpfen müsse: Migranten, das Establishment, das "System" ...

STANDARD: Gegen politische Konkurrenten äußert sich Trump oft beleidigend oder bedrohlich. Ist Hofer ihm auch darin ähnlich?

Wodak: Hofers Verhalten ist in Bezug auf den destruktiven Diskussionsstil vergleichbar. So hat er im Zuge des unmoderierten "Duells" vor der ersten Stichwahl auf ATV, das ich genau untersucht habe, Van der Bellen fünfmal öfter unterbrochen als umgekehrt, Fragen nicht beantwortet und Van der Bellen persönlich angegriffen.

STANDARD: Was wäre die beste Gegentaktik in einer solchen Situation?

Wodak: Man muss vermeiden, in die Rolle desjenigen zu rutschen, der auf die Angriffe bloß reagiert. Man kann zum Beispiel auf die Metaebene schwenken und sagen: "Okay, Sie haben meine Frage zehn Mal nicht beantwortet. Ich schlage daher ein neues Thema vor." Oder mit ironischer Distanz: "Sie wollen meine Frage nicht beantworten. Fällt Ihnen das so schwer?"

STANDARD: Die Erstarkung der Rechtspopulisten ist unter anderem Folge eines Umschwungs der Stimmungslage. Letztere haben Sie in Österreich seit 1995 alle zehn Jahre als "Konstruktion nationaler Identität" untersucht. Was haben Sie 2015 herausgefunden?

Wodak: Es war eine Untersuchung anhand von Medienberichten, Fokusgruppen und Interviews, durchgeführt von einem Team. Heraus kam, dass es einen massiven Umschwung der Einstellungen zu Flüchtlingen und zum Thema Migration gab – in der Politik und in der Bevölkerung.

STANDARD: Woran lässt sich das festmachen?

Wodak: Am heftig geführten Kampf um Begriffe, die für ganze, ideologisch aufgeladene Positionen stehen. So mancher hat über das Hin und Her zwischen Begriffen wie Obergrenze oder Richtwert, Zaun oder Mauer, Grenze oder Türl mit Seitenteilen wohl leise gelächelt. Wir haben genau untersucht, wann, wie häufig und in welchem Zusammenhang diese Begriffe verwendet wurden. Das Ergebnis ist im Zeitverlauf höchst überraschend.

STANDARD: Inwiefern?

Wodak: Die Frage, ob "Zaun oder Mauer", kommt im Sommer 2015 mit Beginn der starken Fluchtbewegung auf – zunächst vonseiten der FPÖ. Dann geschehen im August die großen Tragödien: Parndorf und Bodrum. Die ganze Welt ist erschüttert, man ist sich einig: Es muss etwas geschehen. Die Grenzen werden geöffnet, nur Ungarn spricht laut von Zaunbau und baut ihn auch. Im September greift der damalige Bundeskanzler Werner Faymann Ungarns Regierungschef Viktor Orbán an, erinnert dabei sogar an den Holocaust: ein expliziter Diskurs gegen Flüchtlingsabwehr.

STANDARD: Doch das bleibt nicht so?

Wodak: Nein, denn schon Ende September beginnen in der ÖVP – vor allem von Außenminister Sebastian Kurz und der damaligen Innenministerin Johanna Mikl-Leitner – Wortmeldungen, dass man nicht so viele Flüchtlinge aufnehmen könne. Die Grenzen müssten geschlossen werden. Es war die ÖVP, die die "Festung Europa" als Erste befürwortete.

STANDARD: Warum tat das die ÖVP?

Wodak: Weil inzwischen die Wien- und Oberösterreichwahlen stattfanden, bei denen die ÖVP jeweils verlor und die FPÖ gewann, Letztere mit klar flüchtlings- und ausländerfeindlichen Inhalten. Die ÖVP nahm diesen Diskurs teilweise auf, die SPÖ und Bundespräsident Heinz Fischer hingegen nicht.

STANDARD: Wann schlug das Pendel dann in Richtung Flüchtlingsabwehr aus?

Wodak: Mit den Terroranschlägen in Paris im November 2015 und den Übergriffen gegen Frauen zu Silvester 2015, unter anderem in Köln. Diese Vorkommnisse wurden in den österreichischen Medien und von der Politik stark instrumentalisiert. Ein allgemeiner Vorwurf gegen "muslimische junge Männer" dominierte, dem nicht wirkungsvoll und differenziert widersprochen wurde. Es hieß, "unsere Frauen" müssten vor diesen gewalttätigen "fremden Männern" geschützt werden. Das ist eine Metaphorik für den nationalen Körper, der bedroht werde. Daher müsse man die Grenzen besser kontrollieren, regulieren und sogar schließen.

STANDARD: Wie konnten entsetzliche, aber doch singuläre Vorfälle wie jene in Köln zu einer derartigen Pauschalabwehr führen?

Wodak: Weil die davor dominierende Überlastungsargumentation – es kämen zu viele Flüchtlinge – in ein kulturelles Argument überging – das bezeichnet man als Kulturalisierung der Politik. Diese "Kulturalisierung" der Flüchtlingsfrage führte zum Umschwenken der Regierung als Ganzes, wie sich bei der Landeshauptleutekonferenz am 20. Jänner zeigte, als der sogenannte Richtwert bzw. die Obergrenze beschlossen wurde. Das war der Moment, in dem auch Faymann seine vorhergehenden Positionen aufgibt.

STANDARD: Also stolperte Faymann im Endeffekt über Köln?

Wodak: Ja, so könnte man es sagen. Präziser ausgedrückt: Er stolperte über die Instrumentalisierung von und die damit einhergehende Heuchelei nach den Vorfällen zu Silvester 2015 in Köln. Natürlich war, was dort geschah, schrecklich; aber Vergewaltigungen gab es und gibt es leider auch ohne Flüchtlinge und Migranten in unseren Gesellschaften. Nach Köln war die Stimmung extrem aufgeheizt, bei FPÖ und ÖVP ebenso wie in den Medien.

STANDARD: Woran lag das? Was war – und ist – so stark an dem Kulturargument, sodass man darüber vielfach bereit ist, verbrieften Flüchtlingsschutz außer Kraft zu setzen?

Wodak: Das hängt mit der sehr konservativen Genderpolitik der Rechtspopulisten zusammen, mit Sexismus à la Trump oder Ausgrenzung von Homosexuellen wie in einer Reihe von Staaten Osteuropas. Sowie mit der Islamfeindlichkeit der Rechten. Dass hiesige Frauen sich eine Unterdrückung, wie sie in vielen islamisch dominierten Staaten besteht, wohl nicht bieten lassen, wird dabei ebenso ignoriert wie der Umstand, dass es auch muslimische Frauen gibt, die sich gegen Unterdrückung wehren.

STANDARD: Aber sind für Flüchtlinge aus dem Nahen Osten Realitäten wie Homosexuellenpaare mit Kind nicht wirklich wildfremd?

Wodak: Wie man am Beispiel des Neos-Abgeordneten Christoph Vavrik sah, ist dieses Phänomen nicht auf diese Flüchtlinge beschränkt. Aber ja, unter manchen Flüchtlingen gibt es starke Vorurteile – auch explizit judenfeindliche. In England hatte ich mehrere Doktoranden aus dem Iran, die fest der Meinung waren, der Holocaust habe nie stattgefunden. Sie hatten das so in der Schule gelernt. Sie mussten natürlich umlernen, im konkreten Dialog. Auch in Österreich wird es viel interkulturelle Arbeit brauchen, viel gegenseitiges Kennenlernen der jeweiligen gesellschaftlichen Traumata. (Irene Brickner, 19.11.2016)