"Unsere Verantwortung für den Balkan wird größer", glaubt EU-Erweiterungskommissar Johannes nach der US-Wahl.

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EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn sieht die EU von neuen Drohungen der Türkei, das Flüchtlingsabkommen zu stoppen, nicht bedrängt. Der Zustrom sei im vergangenen Jahr schon vor Inkrafttreten des Deals langsamer geworden, mittlerweile könne die EU gemeinsam mit ihren Partnern die Lage aus eigener Kraft bewältigen. Außerdem lasse sich Europa nicht von der Türkei erpressen, sagt Hahn im Interview mit dem STANDARD. Auswirkungen der US-Wahl sieht er vor allem auf das US-Engagement auf dem Balkan. Hier werde sich die EU stärker selbst einbringen müssen.

STANDARD: Nach dem Wahlsieg von Donald Trump könnte sich das Verhältnis zwischen den USA und Russland verändern. Und das könnte Auswirkungen auf den Balkan haben, denn bisher haben die EU und die USA hier eng zusammengearbeitet. Welche Folgen sehen Sie?

Hahn: Auf dem Balkan sind wir als EU die treibende Kraft, und die USA unterstützen das. Die Zusammenarbeit war in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien sehr gut koordiniert. Ich gehe davon aus, dass das generell so bleiben wird. Aber zu diesem Zeitpunkt ist alles pure Spekulation. Trump ist ein angelsächsischer Geschäftsmann, ich denke also, er wird pragmatisch agieren. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass die neue Administration globaler und internationaler agieren wird als bisher. Ich gehe davon aus, dass es so bleibt oder die USA sich ein wenig zurückziehen, sicher nicht, dass sie sich mehr auf dem Balkan engagieren werden.

STANDARD: Aber wenn sich das Verhältnis zu Russland ändert, könnte es auch sein, dass die USA sich weniger für Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit einsetzen, als sie das bisher etwa in Mazedonien getan haben.

Hahn: Ich glaube, die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien liegt unter Trumps Wahrnehmungsschwelle. Und wenn meine Ansprechpartnerin Frau Nuland (Vizeaußenministerin Victoria Nuland, Anm.) im Amt bleibt, dann wird sie sich so um die Länder kümmern wie bisher. Ganz klar ist aber auch, dass unsere Verantwortung für den Balkan größer wird – was Herausforderungen, aber auch Chancen mit sich bringt.

STANDARD: Welche Strategie soll die EU nach der Wahl Donald Trumps verfolgen?

Hahn: Ich glaube, es ist noch zu früh, um die Positionierung des neuen Präsidenten und der neuen US-Administration seriös bewerten zu können. Die transatlantische Partnerschaft wird für die EU immer von größter Wichtigkeit sein. Klar ist aber schon jetzt, dass wir uns noch mehr als früher bewusst werden müssen, dass wir auf uns gestellt sind und uns nicht auf andere verlassen können.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die Vorbereitungen zur Wahl in Mazedonien am 11. Dezember, damit diese frei und fair stattfinden kann?

Hahn: Sowohl die Opposition als auch die Zivilgesellschaft sind aktiv in die Vorbereitungen eingebunden, was positiv ist. Ich gehe daher davon aus, dass die Wahlen weitestgehend korrekt über die Bühne gehen werden. Wir haben die Arbeit der staatlichen Wahlkommission unterstützt und auch eine verstärkte Wahlbeobachtung durch die OSZE sichergestellt. Ich mache mir eher Sorgen, was nach der Wahl sein wird, wenn es um die Sonderstaatsanwaltschaft geht. Um ihre Glaubwürdigkeit und Akzeptanz zu stärken, muss sie auf unbedingte Unabhängigkeit achten, und das tut sie meines Wissens auch. Die besondere Herausforderung wird auch sein, ob und wie die Anklagen von der Sonderstaatsanwaltschaft von den Gerichten bearbeitet werden. Da wartet noch eine ganze Menge Arbeit auf uns.

STANDARD: Zur Türkei: Was würde passieren, wenn der Türkei-EU-Deal platzen würde?

Hahn: Europa lässt sich nicht erpressen. Schauen wir uns die Fakten an. Erstens: Selbst als der Deal noch gar nicht unter Dach und Fach war, also Anfang des Jahres, waren nur zehn oder zwölf Prozent der Flüchtlinge, die in Griechenland ankamen, Syrer. Zweitens: Der Syrien-Konflikt selbst geht ins sechste Jahr, und wir müssen alles tun – und engagieren uns auch –, um diesen Konflikt zu beenden. Drittens: Der türkische Präsident Erdoğan hat den Syrern die Staatsbürgerschaft angeboten und will sie in den Arbeitsmarkt integrieren, was aus unserer Sicht prinzipiell begrüßenswert ist. Natürlich verfolgt Präsident Erdoğan damit auch seine eigenen Interessen. In der Türkei habe ich bei unseren Besuchen in Flüchtlingslagern keinen einzigen Syrer getroffen, der nach Europa wollte. Sie wollen alle entweder in der Türkei bleiben oder nach Syrien zurückkehren, sobald das möglich ist. Kurzum: Das Problem ist nicht endgültig gelöst, aber wir sind in einer viel besseren Situation als vor einem Jahr.

STANDARD: Würde also etwas passieren, wenn der Deal platzt?

Hahn: Ich will nicht spekulieren, aber mache mir da keine allzu großen Sorgen. Ich habe der Türkei vor einem Jahr gesagt: Jetzt gibt es ein "window of opportunity" für euch, dass wir die Zusammenarbeit intensivieren. Aber diese Chance wurde seitens der Türkei nicht wirklich genützt. Mittlerweile ist die Balkanroute so gut wie geschlossen, und wir haben in der Zwischenzeit sehr viel getan, um die Flüchtlingskrise aus eigener Kraft oder auch mit weiteren Partnern bewältigen zu können: Schutz der Außengrenzen, Unterstützung von Italien und Griechenland, Partnerschaften mit den Herkunftsländern; Unterstützung Jordaniens und des Libanon. Europa ist wie ein schwerfälliger Tanker, aber wenn dieser einmal in eine Richtung fährt, dann fährt er.

STANDARD: Welche Auswirkung haben der Bericht zur Türkei und die jüngsten Einschränkungen der Demokratie in der Türkei auf die Haltung der EU?

Hahn: Ich glaube, dass nach unserem Bericht allen Mitgliedstaaten der Ernst der Lage klar ist. Gleichzeitig wollen aber alle am Dialog festhalten, was ja auch Sinn macht, denn nur so kann man Verbesserungen für die Zivilgesellschaft erreichen. Es war für den Außenministerrat allerdings ohnedies keine Entscheidung vorgesehen – jetzt ist es einmal wichtig, dass die Lage in der Türkei ausführlich und ohne jegliches Tabu diskutiert wird. Dies ist das erste Mal geschehen, und ich hoffe, dass die ernsthafte Auseinandersetzung auf Ebene der Mitgliedstaaten weitergeht.

STANDARD: Die Flüchtlingskrise hat innerhalb der EU zu Spannungen geführt.

Hahn: Wir haben die schwierige Situation, dass wir viele neue Mitgliedstaaten haben, davon kleine und mittlere, die noch nicht in der ökonomischen und politischen Situation sind, wirklich selbstbewusst aufzutreten, und gleichzeitig sind Frankreich und Großbritannien neben Deutschland etwas in den Hintergrund getreten.

STANDARD: Im Kosovo ratifiziert das Parlament seit 16 Monaten das Grenzabkommen mit Montenegro nicht, obwohl dieses notwendig ist, um die Visaliberalisierung zu bekommen. Sie haben mit allen Parteichefs geredet. Wie sieht es nun aus?

Hahn: Es ist eine schwierige Situation, und es wird von Neuwahlen geredet, obwohl es kaum ein Land gibt in Europa, wo eine Regierung eine Zweidrittelmehrheit hat. Aber das ist das bekannte Spiel: Wenn man nichts weiterbringt, glaubt man irrtümlicherweise, Neuwahlen würden etwas ändern. Aber diese ändern an gravierenden strukturellen Problemen oder Bedingungen, welche die EU setzt, nichts. Das kann man nur durch konkrete Arbeit erreichen.

STANDARD: Gibt es irgendwelche Aussichten, dass das Grenzabkommen ratifiziert wird?

Hahn: Ich habe die ganze Zeit erklärt, dass es kontraproduktiv ist, wenn gewisse Politiker nun meinen, die EU beschuldigen zu müssen, weil sie selbst keinen Fortschritt zuwege bringen. Die Anforderungen sind klar. Von 95 Bedingungen für die Visaliberalisierung wurden 93 erfüllt, aber sie haben es nicht geschafft, dieses Grenzabkommen zu ratifizieren.

STANDARD: Aber wenn sie jetzt nicht dieses Grenzabkommen ratifizieren, dann ist das Zeitfenster, um die Visaliberalisierung über die Bühne zu bringen, doch wieder geschlossen?

Hahn: Ja; in der Tat, es wird immer schwieriger. Ich habe allen meinen Gesprächspartnern gesagt. wenn ihr nicht liefert, dann werden die Leute euch dafür verantwortlich machen. Aber von Regierungsseite wurde behauptet, dass die EU schuld sei, und sogar das Argument vorgebracht, dass die EU so handle, weil der Kosovo ein muslimisches Land ist. Das ist ein unseriöses Spiel auf Kosten der Bevölkerung und der EU-Perspektive des Landes. Aber, wie die Kosovo-Berichterstatterin des Europäischen Parlaments, Ulrike Lunacek, gesagt hat: Es ist ja nicht so, dass die Welt auf den Kosovo wartet.

STANDARD: Spielen die Asylwerber vom Balkan nicht auch eine Rolle, wenn es darum geht, dass die EU-Innenminister einer Visaliberalisierung zustimmen oder nicht?

Hahn: Im Fall des Kosovo muss man sagen, dass die Asylwerberzahlen wirklich drastisch reduziert wurden. Das war eine konzertierte Aktion hier im Land, unter Druck von mir und anderen.

STANDARD: Der Fortschrittsbericht zu Serbien war sehr positiv, allerdings wurde angemerkt, dass sich das Land noch nicht der EU-Außen- und -Sicherheitspolitik angepasst hat. Es geht natürlich um die Sanktionen gegen Russland im Fall der Ukraine. Gibt es Anzeichen, dass Serbien seine Politik hier anpassen könnte?

Hahn: Serbien weiß, dass es bis zum Beitritt seine Außen- und Sicherheitspolitik mit jener der EU in Einklang bringen muss. Jetzt hier großen Druck auszuüben wäre kontraproduktiv. Im Fall Serbiens habe ich auch eher die Sorge, dass rund um die Präsidentschaftswahlen wieder starke nationalistische Ansagen kommen werden – wenn man sich die Namen mancher Kandidaten anschaut (ein Kandidat für die Wahlen kommenden Mai ist etwa der Ultranationalist Vojislav Šešelj, Anm.). Aber ich vertraue auf die mäßigende und klar proeuropäische Haltung von Premierminister Vučić, der die EU-Perspektive als strategisches Ziel Serbiens bestätigt hat.

STANDARD: Im Dialog zwischen Serbien und dem Kosovo ist in den vergangenen eineinhalb Jahren fast nichts weitergegangen.

Hahn: Ja, leider. Doch ich hoffe, dass die Einigung dieses Wochenende im Telekombereich eine neue Dynamik bringen wird.

STANDARD: Russland unterstützt die teilweise sezessionistische Politik der SNSD (Allianz der Unabhängigen Sozialdemokraten, Anm.) von Milorad Dodik im bosnischen Landesteil Republika Srpska. Wie kann man den zunehmenden Einfluss Russlands auf dem Balkan eindämmen?

Hahn: Die russische Unterstützung – nicht nur für die Republika Srpska – ist finanziell betrachtet enden wollend. Dies hat sicher eine Auswirkung auf die Wirksamkeit dieses Einflusses. Deswegen haben wir in Hinblick auf das Referendum sehr ruhig agiert, um die Spannungen nicht weiter zu eskalieren. Aber Sie haben recht, wir dürfen dieses Problem natürlich nicht unterschätzen.

STANDARD: Dodik exerziert vor, dass die bosnische Justiz nicht funktioniert.

Hahn: Unser Ziel muss es sein, dass Höchstgerichtsurteile respektiert werden. Spätestens am 1. Februar nächsten Jahres tritt das SAA-Abkommen in Kraft. Und bis Ende des Jahres bekommt Bosnien-Herzegowina den Beitrittsfragebogen von uns. Das wird der Lackmustest. Anstelle einen großen Wirbel um das Referendum zu entfachen, wollen wir die Aufmerksamkeit der Menschen auf die positive Entwicklung des Landes lenken. Bosnien-Herzegowina war daher für mich der Anlass, neben der Ukraine, die großen Finanzinstitutionen dazu zu bringen, sich mit uns zu koordinieren. Seit Dezember letzten Jahres gibt es eine Vereinbarung darüber. In Bosnien-Herzegowina zahlen Weltbank, IWF, EBRD (Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, Anm.), EIB (Europäische Investitionsbank, Anm.) und wir 900 Millionen Euro. Wir verteilen das Geld jetzt über die Bundesebene, und so können wir Konditionen setzen. Die Republika Srpska ist in einer erheblichen Wirtschaftskrise. Sie ist daher auf Zuwendungen durch die Bundesebene angewiesen. Ich glaube zwar, dass die Russen ausgeklügelt agieren, aber wir können die "Störmanöver" in Grenzen halten, indem wir zeigen, dass es um eine Stabilisierung und Entwicklung des Westbalkans geht, die auch im Interesse Russlands sein sollte. (Adelheid Wölfl aus Prishtina, 14.11.2016)