Das gesprochene Prager Deutsch galt einst als das schönste des gesamten deutschen Sprachraums. Das geschriebene Prager Deutsch ging mit den Genies Kafka und Rilke und noch vielen anderen wie Franz Werfel, Max Brod und Egon Erwin Kisch in die Weltliteratur ein. Zwei Weltkriege mit all ihren Auswüchsen von Nationalismus und Rassismus machten dem Prager Deutsch beinahe den Garaus. 2008 starb die letzte deutschsprachige Schriftstellerin, Lenka Reinerová. Ihr vor allem ist es zu verdanken, dass es heute in der Tschechischen Republik eine wachsende, wenn auch immer noch bescheidene Rückbesinnung auf das großartige deutschsprachige literarische Erbe der böhmischen Länder gibt.
Auf unermüdliche Initiative Reinerovás und einiger Mitstreiter wurde 2004 das Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren gegründet. Zunächst bestand es sozusagen nur als Wille und Vorstellung. Erst 2012 fand es als literarisches Kabinett eine materielle Bleibe in der Ječná 11. Heute beherbergt es mit rund 2.200 Bänden die vollständigste Sammlung deutschsprachiger Literatur aus den böhmischen Ländern in Tschechien.
Lesungen, Stipendien und Wettbewerbe
Das Haus veranstaltet unter anderem Lesungen, vergibt jeweils einmonatige Stipendien an Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz und organisiert Rezitationswettbewerbe für Schüler von sieben bis 18 Jahren. Dass die Teilnehmerzahl von anfangs 20 auf zuletzt 180 gestiegen ist, sieht Direktor David Stecher als ermutigendes Zeichen. Dennoch machten es sich die Schulen zu leicht, wenn sie Klassen in das Literaturhaus schickten, statt den jungen Menschen selbst im Unterricht die deutschsprachige Literatur ihres Landes näherzubringen, sagte Stecher jüngst bei der Präsentation seines Hauses in der tschechischen Botschaft in Wien. Immerhin gingen die Schüler "mit mehr von uns weg, als womit sie gekommen sind".
Sowohl Stecher als auch Programmleiterin Barbora Šrámková räumen ein, dass das Bewusstsein für die Bedeutung der deutschsprachigen Literatur Tschechiens über einen kleinen Kreis Interessierter hinaus nicht sehr groß sei. Und wie steht es mit der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur der böhmischen Länder? Ist auch sie mit Lenka Reinerová gestorben? "Jein", sagt Šrámková und verweist auf eine Handvoll tschechische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die auch in Deutsch publizieren.
Unter ihnen Jindřich Mann, ein Enkel von Heinrich Mann. 1948 in der Tschechoslowakei geboren, emigrierte er nach der Sowjetinvasion 1968 und kehrte nach der Wende 1989 wieder in seine Heimat zurück. Seine bewegende Familiengeschichte hat er in dem Roman "Prag, poste restante" festgehalten, den er dann selbst ins Tschechische rückübersetzte.
Stipendiatin Isabella Feimer
Unter den vom Literaturhaus eingeladenen Stipendiaten war auch die österreichische Autorin Isabella Feimer. Sie schrieb während ihres Aufenthalts in Prag 2013 den teils autobiografischen Roman "Zeit etwas Sonderbares", aus dem sie in der tschechischen Botschaft las. In einem Ort nahe der tschechischen Grenze pflegt Maria ihren todkranken, tyrannischen Stiefvater. Ihr scheinbar unentrinnbares Schicksal kompensiert sie mit Briefen an den sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin, mit dem sie ihrer Vorstellung zufolge den Traum von der Schwerelosigkeit in Zeit und Raum teilt. Dann kommt die ČSSR-Invasion 1968, und die Träume werden von Panzern überrollt.
Hat Isabella Feimer während ihres Stipendiums in Prag ein wachsendes Interesse an der eigenen deutschsprachigen Literatur festgestellt? Dazu sei die Zeit wohl zu kurz gewesen, meint sie. Und Zeit brauche man, um den eher verschlossenen Tschechen näherzukommen.
Was ihr hingegen sehr unangenehm aufgefallen sei: "die extreme Vermarktung" Kafkas und anderer literarischer Größen. Touristen, von denen die meisten vermutlich keine Zeile von Kafka gelesen haben, kaufen massenhaft Souvenirs aller Art mit seinem Porträt. Und das war sie dann schon, die Begegnung mit dem unergründlichen Genie. Weltliteratur, vom Kommerz überrollt. (Josef Kirchengast, 11.11.2016)