Vom Empire State Building in New York strahlt Dienstagnacht das Konterfei des neuen Präsidenten: Donald Trump.

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Als Donald Trump im Hilton-Hotel in Midtown-Manhattan an ein Rednerpult tritt, herrscht in der Lincoln Bar in Washington, nur ein paar Häuserblöcke entfernt vom Weißen Haus, nun ja, Begräbnisstimmung. Es ist fast drei Uhr nachts, der Immobilienmogul, der ab dem 20. Jänner der 45. Präsident der Vereinigten Staaten sein wird, gibt den Versöhner: Es sei an der Zeit, Binden um die Wunden der Spaltung zu legen, sagt er: "Allen Republikanern, Demokraten und Unabhängigen sage ich: Es ist an der Zeit, dass wir zusammenkommen als ein geeintes Volk."

In der Lincoln Bar denkt Sarah Hluchan, Tochter slowakischer Einwanderer, angestellt bei einer Consultingfirma, laut übers Auswandern nach Kanada nach, während Andrew Weinstein von der Wut vergessener, abgehängter Landsleute spricht. Und von den Geldinstituten, die sich in der Finanzkrise mit vielen Milliarden an Steuergeldern retten ließen, um ihren Bankern bald darauf wieder fette Boni auszuzahlen. Und von schreiender Ungerechtigkeit, der immer breiter auseinanderklaffenden Einkommensschere. "Die Leute, die schuld waren an dieser Krise, die sind heute noch reicher als damals. Und diejenigen, die die Zeche bezahlen durften, sind die Verlierer." Weinstein, 46 Jahre alt, Chef einer PR-Agentur, klingt ein bisschen wie Bernie Sanders, der linke Rivale Hillary Clintons. Dabei ist er mit Leib und Seele Republikaner.

Einst hat er Newt Gingrich, der früher Speaker des Repräsentantenhauses war und unter Präsident Donald Trump ein fulminantes Comeback feiern könnte, im Wahlkampf beraten. Weinstein hat die Wahlparty in der Lincoln Bar organisiert, und zwar für die "Never Trump"-Bewegung, eine Gruppe von Republikanern, die jeden anderen Kandidaten ihrer Partei akzeptieren wollte – nur eben nicht Donald Trump. Der Clou des Abends sind Mixgetränke, die sich "Trump Tower" und "Hillary Inbox" nennen – womit gemeint ist, dass der Immobilienmogul ein turmhohes Ego hat und ansonsten aus dem Stegreif darauf losschwadroniert, während die Exaußenministerin gewissenhaft abarbeitet, was an Akten auf ihren Schreibtisch kommt.

Lange Gesichter

Am frühen Abend, kurz nach halb acht amerikanischer Ostküstenzeit, hatte es die ersten langen Gesichter in der Bar an der Vermont Avenue gegeben, zwischen roten, weißen und blauen Luftballons und originellen Porträts von "Old Abe" Abraham Lincoln. Unten in Florida, wo zu diesem Zeitpunkt etwa die Hälfte der Stimmen ausgezählt ist, hat Trump die Nase vorn. Im bevölkerungsreichsten aller Swing States sieht es gut für ihn aus.

Um 21.12 Uhr treffen sie bei CNN die Prognose, dass Trump Texas gewinnt. Das überrascht keinen, doch Texas hat dem Tycoon mit knapperem Vorsprung den Zuschlag gegeben, als es normalerweise bei Kandidaten der Grand Old Party der Fall ist. Worauf sich die Mienen der Never-Trump-Leute ein bisschen aufhellen – aber nur bis die Kabelsender um 22.27 Uhr verkünden, dass der Geschäftsmann Ohio nicht nur gewinnt, sondern dort wahre Triumphe feiert, mit elf Prozentpunkten Vorsprung. Ohio gilt als ultimativer Swing State, weil das Pendel von Wahl zu Wahl hin- und herschwingt zwischen Demokraten und Republikanern und der "Buckeye State" seit Jahrzehnten verlässlich dem Bewerber den Vorzug gibt, der am Ende ins Weiße Haus einzieht.

Das Ergebnis signalisiert zweierlei: Erstens schneidet Trump im "Rust Belt" der alten Industrie noch besser ab, als es die Meinungsforscher vorausgesagt hatten. Und zweitens wird es eine lange Nacht: Hätte der Tycoon Ohio verloren, wären wohl schon die ersten Messen gesungen worden. Für Hillary Clinton.

Dann hagelt es, jedenfalls aus Sicht der schockierten Partygäste in der Lincoln Bar, nur noch Hiobsbotschaften: Um 23.32 Uhr geht Iowa an Trump, der Staat, in dem traditionell der Vorwahlmarathon beginnt und in dem es häufig auf Messers Schneide steht.

Die "blaue Wand" bröckelt

Und dann bröckelt die vielzitierte "Blue Wall", die blaue Wand, von der sich die Demokraten versprochen haben, dass sie Trump den Weg zum Sieg versperrt, selbst wenn es anderswo gut für ihn läuft. Drei Staaten, die bei Präsidentschaftswahlen eigentlich demokratische Hochburgen sind, wechseln auf der politischen Landkarte einer nach dem anderen die Farbe, vom Blau der Demokraten zum Rot der Republikaner: Pennsylvania und Wisconsin, womöglich auch Michigan – dort bleibt es zunächst offen – wählen allesamt Trump. Es ist die eigentliche Sensation dieser Nacht, es bedeutet, dass der Frust in der weißen Arbeiterschaft, in der verunsicherten weißen Mittelschicht, so groß ist, dass viele die Parteifarbe wechseln. Offenbar trauen sie einem Quereinsteiger, einem schroffen Geschäftsmann, der mit vagen Ankündigungen verlorene Industriejobs zurückzuholen verspricht, mehr zu als einer Frau, die seit 25 Jahren in der ersten Reihe der Politik sitzt und die Mechanismen Washingtons kennt wie ihre Westentasche.

Vergleich mit Reagan

Das letzte Mal hatte es dieses Phänomen in den 1980er-Jahren gegeben, als Ronald Reagan, belächelt als Schauspieler, zweimal in Folge ins Oval Office gewählt wurde. Damals war von den "Reagan Democrats" die Rede, diesmal macht das Wort von den "Trump Democrats" die Runde. Und offenbar hat es auf der anderen Seite nicht annähernd so viele Republikaner wie Andrew Weinstein gegeben: Leute, die sich vom Kandidaten ihrer Partei abwandten, um für Clinton zu stimmen.

Im Hilton in Manhattan flicht der Sieger der Verliererin einen rhetorischen Lorbeerkranz, der nach der hässlichsten Wahlschlacht der jüngeren Geschichte der USA in den Ohren ihrer Anhänger nur scheinheilig klingen kann. Clinton habe sehr hart gearbeitet, sagt Trump, "wir schulden ihr Dankbarkeit für ihren Dienst an unserem Land". Er meine das wirklich ehrlich, schiebt der Populist hinterher.

Am nächsten Morgen setzt er seinen ersten Tweet nach dem Wahldrama ab, es ist ein vollmundiges, aber auch schwammiges Versprechen an die Adresse der Abgehängten: "Die vergessenen Männer und Frauen werden nie wieder vergessen sein." (Frank Herrmann aus Washington, 9.11.2016)