"Manon" an der Wiener Staatsoper.

Foto: Ashley Taylor

Wien – Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Ein berühmter Philosoph meinte bekanntlich einmal: nein. Sechseinhalb Jahrzehnte später ist die Sache insofern leichter, als sich gar nicht mehr ohne weiteres über richtig und falsch urteilen lässt. Zum Glück sind wir hier nur in der Oper. Man kann Jules Massenets Manon so sehen, dass sich die Titelfigur mit lauter unmöglichen, also "falschen" Lebensentwürfen konfrontiert sieht, die aus den Moralvorstellungen ihrer Zeitgenossen resultieren: Ehe, Kloster, schließlich Kerker – die Zwänge wechseln bloß ihre Erscheinungsform. Bei der Betrachtung des Werks selbst, das schon für Tschaikowsky ein Musterbeispiel wohlgeformter Langeweile war, stellt sich eine andere Frage: Wo lassen sich in diesem munteren Gefühlsräderwerk echte Emotionen verorten?

Natürlich ist die Aufführung an der Staatsoper in vielem exzellent: Ein verlässlicher Dirigent, der die Partitur so idiomatisch wie irgend möglich realisiert (Frédéric Chaslin), ist ebenso selbstverständlich wie ein Tenor, der jeden Schluchzer und jeden Spitzenton gezielt-routiniert absetzt (Jean-François Borras). Rollendeckend und profiliert singen und spielen auch der noble Lescaut (Adrian Eröd), der komische Morfontaine (Alexander Kaimbacher), der virile Brétigny (Clemens Unterreiner) sowie das restliche Ensemble.

Dass sie alle kaum je unter die Oberfläche ihrer Figuren dringen, liegt ein wenig am Stück selbst – und ein wenig auch an der oberflächlich modernisierten, jedoch zutiefst statischen Inszenierung von Andrei Serban, die hier ihre 42. Aufführung erlebte.

In der Regel agiert auch die Sängerin der Manon vor allem als Schablone, als Projektionsfläche männlicher Wolllust – gerade, wenn sie so verführerisch (halb) eingekleidet ist wie hier. Rollendebütantin Marlis Petersen transformierte jedoch einmal mehr ihre Partie – mit ihrer souveränen Bühnenpräsenz, v. a. aber mit ihrer einmaligen Fähigkeit, den noch so konventionellen Tonfolgen emotionalen Sinn zu verleihen.

Ein sinnliches Fest bis zum letzten Atemzug der Titelgestalt. (Daniel Ender, 8.11.2016)