Sie pflegen ihre Herde und ihre Gewohnheiten, genießen die Freiheit, sind nichts für den Streichelzoo und argwöhnen allem Neuen: Österreichs Gänse, ehe sie als Martinibraten auf dem Teller landen.

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Wien – Am Anfang war das Gössel. Einen Tag ist das Gänseküken alt, wenn es in Wolfgang Kaltenbrunners Stall in Zell am Pettenfirst in Oberösterreich einzieht. Es gilt als teurer Mercedes unter seinesgleichen: Deutsche Züchter verlangen pro Federball 35 Euro, das Fünffache eines normalen Winzlings. In den kommenden vier Jahren wird es dafür in Summe 220 Eier legen. Und diese sind Keimzelle für den Nachwuchs an Martinigänsen.

Kaltenbrunner führt den einzigen österreichischen Gänseelternbetrieb. Seit drei Jahrzehnten bietet seine Familie damit Massenimporten an Küken aus Ungarn und Polen Paroli. Der Bedarf an Geflügel mit Stammbaum in Österreich wächst. Höhen und Tiefen gab es viele, doch Kaltenbrunners Gänse ließen sich auch von einem Konkurs, der Vogelgrippe und abgebrannten Ställen nicht kleinkriegen. Er selbst habe so viel Erfahrung in diesem sensiblen Geschäft gesammelt, dennoch lerne er über seine Gänse immer wieder Neues dazu, sinniert Kaltenbrunner.

Stall mit Wintergarten

1300 leben auf seinem Hof. Von Juli bis Jänner grasen sie auf der Weide. Dann geht's für einige Monate "in einen Stall mit Wintergarten und Swimmingpool". Anders als Hühner legen Gänse allein im Frühling. Klug seien sie, wachsam wie ein Hund und äußerst argwöhnisch, sagt Kaltenbrunner. Ein Ast auf der Wiese, eine neu gespannte Schnur, eine fremde Person im Stall – "und nichts geht mehr".

Das Licht der Welt erblicken die in Pettenfirst gezeugten Gössel im nahen Neukirchen an der Vöckla. Familie Maringer betreibt hier im Sinne eines steirischen Pioniers, der sich in den Ruhestand zurückzieht, Österreichs einzige Gänsebrüterei. 31 Tage lang wird gebrütet. Einmal täglich werden die Eier mit Wasser bespritzt. Donnerstags von April bis Sommer ist das große Schlüpfen. Und gut 24 Stunden später ziehen allwöchentlich 2400 Küken zu den Bauern um. Im Alter von zwei, drei Wochen geht es dann für sie raus auf die Weide.

Nischenanbieter mit viel Nachfrage

"Wir arbeiten in einer Nische", sagt Rosemarie Maringer, aber die Nachfrage steige jedes Jahr, und ihr kleiner Betrieb wachse Schritt für Schritt in den Markt hinein.

Heidi Hebesberger ist eine von 244 Kunden der Oberösterreicherin. 50 Gänse liefen vor 17 Jahren über ihre Wiesen in Nußbach, 800 tun es heute. Wie die Rasenmäher grasten sie die Weiden ab, erzählt die Obfrau des Vereins der Österreichischen Weidegans. Dank hohen Magendrucks und dank Kieselsteinen in demselben seien sie vortreffliche Pflanzenverwerter.

Nichts für den Misthaufen

Hebesberger schlachtet selbst. Sie verkauft ab Hof und an regionale Gastronomen. Und sie baute eine Sammelstelle für Federn auf. Statt auf dem Misthaufen, wie früher üblich, landen diese nun bei zwei Unternehmern. Einer davon ist Helmut Schrenk. Der Chef des Daunendeckenherstellers Sleepwell Kauffmann bereitet in Hörbranz mit 74 Mitarbeitern Federn auf. Fachhändler und Luxuskaufhäuser vertreiben seine Bettwaren Made in Austria in alle Welt.

Ein Zehntel der Daunen stammt von Österreichs Weidegänsen. Ihr Federkleid sei größer und dichter, sagt Schrenk. Und ihr Leben sei nachweislich besser als jenes der Artgenossen aus billiger Massenproduktion. Gerupft werde erst nach dem Tode. Das gelte auch für alle weiteren Federn, die Kauffmann aus einem Schlachthaus in Polen beziehe. Rund 13 Millionen Euro setzen die Vorarlberger um. Sie zählen zu den letzten der Branche, die in Europa produzieren.

Ein Gansl pro Jahr

Ein Österreicher gönnt sich im Schnitt ein Ganslessen im Jahr. In Summe braucht es dafür 600.000 Gänse. So stetig jene aus österreichischer Zucht an Boden gewinnen – bis zu 85 Prozent des Bedarfs werden immer noch aus dem Ausland gedeckt. Handelsketten und Wirte kaufen überwiegend in Osteuropa ein. Konsumenten zahlen fürs Kilo Importfleisch meist die Hälfte dessen, was sie für Geflügel aus Österreich auslegen müssten.

Für Martin Mayringer von der Landwirtschaftskammer OÖ liegen die Gründe für die Differenz auf der Hand: "Österreichs Gänse werden nicht gestopft und nicht lebend gerupft." Ihr Leben währe 25 statt zwölf Wochen, statt Mais gebe es vor allem Gras zu fressen. "Dafür bleibt beim Braten statt Fett mehr Fleisch in der Pfanne." (Verena Kainrath, 8.11.2016)