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Baggio Leung und Yau Wai-ching provozierten bei ihrer Vereidigung.

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Am Sonntag hatten zahlreiche Menschen in Hongkong gegen Pekings angedrohte Einmischung protestiert.

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Die Polizei trieb Demonstranten mit Pfefferspray auseinander.

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Im achten Stock des Abgeordnetenhauses hängen Solidaritätsplakate für Chinas bekanntesten politischen Häftling: "Freiheit für Liu Xiaobo". Sechs seiner elf Jahre Haft hat der Friedensnobelpreisträger bereits abgesessen. China hatte ihn für seinen Freiheitsaufruf Charta 08 bestraft, das Pendant zur einstigen Charta 77, die den Ostblock erschütterte.

Im fernen Hongkong denken Abgeordnete an Liu. Die 59-jährige Claudio Mo ist Gründungsmitglied der Bürgerpartei Civic, Teil der kleinen Opposition im Miniparlament der Hafenmetropole. Zusammen bringen es Pandemokraten und alternative Parteien auf 29 Vertreter unter den 70 Abgeordneten. Sie sind eine Minderheit im prochinesisch eingestellten Parteienestablishment. Nach Hongkongs selbstverfasstem Grundgesetz (Basic Law) haben sie das Recht, ihre Stimme zu Gehör zu bringen. So wie Mo, die im September für weitere vier Jahre gewählt wurde. Sie setzt sich für soziale Rechte der Bürger und gegen Wohnungsspekulation ein.

In China verbotenen Zeitungen

Obwohl Hongkong 1997 unter die Fittiche der Volksrepublik zurückkam, hat es sein früheres freiheitliches Gesellschafts- und Rechtssystem behalten dürfen. In den Straßen bieten an jeder Ecke Verkäufer bündelweise kritische Zeitungen und Zeitschriften an, die in China verboten sind. Die jüngste spektakuläre Verschleppung und Verfolgung von fünf Hongkonger Händlern kritischer China-Literatur hat sie nicht abgeschreckt.

Das Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" war der Preis, den Chinas Führung für die friedlich verlaufene Umwandlung Hongkongs in ein chinesisches Sonderverwaltungsgebiet zahlen musste. China garantiert Hongkong diesen Sonderstatus auf 50 Jahre.

Doch seit dem Wochenende sorgt sich Mo nicht mehr nur um die Freiheit des Dissidenten Liu, sondern auch um jene Hongkongs und darum, wie lange das Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" noch hält. "Peking macht mit Hongkongs Grundgesetz, was es will", sagt Mo. Sie sei pessimistisch. "Diesmal zu 100 Prozent."

Provokation in Richtung Peking

Denn China greift in Hongkongs Entscheidungen immer direkter ein, jetzt zum fünften Mal seit 1997. Die Vereidigung zweier neu gewählter Abgeordneter auf das Hongkonger Grundgesetz lieferte dazu das Vorspiel. Am 12. Oktober traten der 30-jährige Sixtus Baggio Leung und die 25-jährige Yau Wai-ching zum Schwur an. Die Aktivisten der aus der Studentenbewegung hervorgegangenen Splitterpartei "Youngspiration" sprechen sich für ein unabhängiges Hongkong aus. Das war ihnen bisher erlaubt, solange daraus keine Taten folgen.

Die beiden brachten zu ihrer Vereidigung im Legislativrat nicht nur ein Unabhängigkeitsbanner mit: "Hongkong ist nicht China." Leung kreuzte auch demonstrativ die Finger hinter seinem Rücken, sprach den Namen China wie "Chee-na" aus. Das klang wie die im Zweiten Weltkrieg von Japanern kreierte Sprachabart des Namens China, um das Land verächtlich zu machen. Yau murmelte statt Volksrepublik etwas Ähnliches, aber verbunden mit dem "F-Wort".

Sie legten es auf Provokation an. Mo wollte das Happening zuerst als "kindischen Unsinn" abtun. Aber ihnen war nicht zu helfen, sie hätten "alle Dimensionen gesprengt". Selbst unter kritischen Hongkongern "billigen sehr wenige ihr Verhalten".

Letzte Instanz: Hongkonger Höchstgericht

Hongkongs Parlamentspräsident erklärte die Vereidigung ungültig, wollte, dass die Abgeordneten einen richtigen Eid ablegen. Das verhinderten prochinesische Abgeordnete, die aus dem Saal zogen. Es kam zu Tumulten, als den Ausgeschlossenen der Zugang zum Legislativrat verwehrt wurde. Parteien, Politik und Justiz stritten, was zu tun war. Nach dem Grundgesetz ist die letzte Instanz zur Klärung das höchste Hongkonger Gericht.

Chinas Führung wollte nicht abwarten. Beunruhigt über neue Bestrebungen zur Unabhängigkeit in Taiwan und Hongkong statuierte sie ein Exempel. In Peking tagte der Ständige Ausschuss des gesetzgebenden Volkskongress in anderer Sache, etwa die Verabschiedung seines umstrittenen Gesetzes zur Cybersicherheit. Es wird im Juni 2017 in Kraft treten, verschärft die Kontrolle und Zensur in Chinas Netz. Artikel 58 legt etwa fest, dass mit Billigung des Staatsrates aus Gründen der Sicherheit des Staates und der öffentlichen Ordnung ganze Gebiete vom Netz getrennt werden können.

Neue Deutlichkeit

Der Ausschuss setzte zum Wochenende zusätzlich das Thema Hongkong auf seine Tagesordnung. Parlamentsbeauftragter Li Fei rechtfertigte am Montag auf einer Pressekonferenz in der Großen Halle des Volkes den Eingriff des Volkskongresses zur Neuinterpretation von Hongkongs Grundgesetz, bevor Hongkongs Justiz oder sein Parlament Peking um Unterstützung angerufen hatten. Vorwürfe der Bevormundung und Verletzung der Autonomie Hongkongs wies Li brüsk zurück. In Artikel 158 des Grundgesetzes stehe, dass Chinas Parlament die Hongkonger Gerichte autorisiert hat, das Grundgesetz zu interpretieren. Das können sie nur innerhalb des Rahmens ihrer Autorisierung tun, die Peking erteilt hat. "Wie kann daher die übergeordnete Einheit infrage gestellt werden?" So deutlich hat Peking Hongkong noch nie gesagt, wer der Boss ist.

Der Ständige Ausschuss entschied nun, dass jede Verunglimpfung oder Verweigerung eines Eids zur Disqualifizierung des jeweiligen Amtsbewerbers führt. Die Wiederholung einer ungültigen Vereidigung ist verboten. Chinas Parlament legte genau fest, wie der Eid gesprochen werden muss. Wer Wörter einfügt oder nicht würdevoll schwört, wird disqualifiziert. Peking verlangt die Disqualifizierung der beiden Hongkonger Abgeordneten. Vor allem aber drohte Li Fei allen Unabhängigkeitsbestrebungen, die Peking eindämmen und bekämpfen will. "Wir achten auf die riesige Gefahr, die Unabhängigkeitsbefürworter für Hongkong oder das Land spielen."

Protestmarsch angekündigt

In Hongkong kündigten Juristen für Dienstag einen Protestmarsch in schwarzer Kleidung an. Am Sonntag hatten schon Tausende gegen Pekings angedrohte Einmischung demonstriert. An einer Stelle trieb die Polizei Gruppen mit Pfefferspray auseinander. Einige trotzten mit aufgeklappten gelben Regenschirmen den beißenden Schwaden. Sie erinnerten an die bewegten Tage der Occupy-Bewegung, die als "Regenschirm-Revolution" 2014 weltweit bekannt wurde. Zu Hunderttausenden forderte damals Hongkongs Jugend mehr Selbstbestimmung und die von Chinas Regierung versprochenen freien Wahlen für den Verwaltungschef. Chinas Volkskongress hatte Hongkong ein Verfahren aufgenötigt, mit dem Peking die zur Wahl stehenden Kandidaten kontrollieren könnte. Claudio Mo fürchtet, dass Pekings erneute Einmischung Hongkongs Jugendliche entweder in die Emigration oder zu einer Neuauflage der Regenschirmbewegung führt. (Johnny Erling aus Hongkong, 8.11.2016)