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Bis zu 6,8 Millionen Tuberkulosepatienten gibt es in Indien, wie eine neue Studie zeigt. In staatliche Spitäler, wie hier in Kaschmir, kommen nur 41 Prozent – auch weil Ärzte sie nicht informieren.

Foto: APA / EPA / Farooq Khan

"Ich wurde immer wieder krank", erzählt Rekha Shinde. Die 35-Jährige bekam erst Typhus, dann Malaria, danach eine Lungenentzündung. Sie wog nur noch 30 Kilogramm, ihr quälender Husten wollte nicht aufhören. Ein Arzt verschrieb ihr Antibiotika. Doch die Medikamente halfen nicht und verdeckten nur das wahre Problem: Tuberkulose (TB). Rekha ist ein typischer Fall für Indien. Trotz eines staatlichen Bekämpfungsprogramms wird die Infektionskrankheit oft erst spät entdeckt. Das Ausmaß des Problems ist weit größer als bisher bekannt.

Rund 2,2 Millionen Patienten – fast ein Drittel aller TB-Kranken in Indien – werden ausschließlich in privaten Kliniken betreut. Doch jahrelang wurden solche Fälle nicht in der offiziellen Statistik erfasst, die offenbar nur diejenigen registrierte, die im Zuge der staatlichen TB-Programme behandelt wurden. Tuberkulose erschien so unter Kontrolle.

6,8 Millionen Erkrankte

Doch im Oktober korrigierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ihre Zahlen dramatisch nach oben, nachdem die medizinische Fachzeitschrift "Lancet" eine Studie veröffentlicht hatte, die die Zahl der TB-Erkrankungen in Indien auf 6,8 Millionen schätzt – mehr als doppelt so viel, wie die WHO bislang annahm. Die "Lancet"-Studie orientiert sich an den Verkaufszahlen von TB-Medikamenten in Indien.

Die Studie zeigt, was alles in Indien falsch läuft: Staatliche Kliniken versagen bei der Behandlung, die Patienten misstrauen den staatlichen Gesundheitszentren. Die Versorgungslücke decken private Ärzte oder Apotheker, die den Patienten einfach irgendwelche Antibiotika geben.

So gut wie keine Kontrolle

Indiens Apotheker sind dafür bekannt, Arzneien ohne eine ärztliche Verschreibung zu verkaufen, auch hochspezielle Medikamente wie etwa Reserveantibiotika, die eigentlich nur dann eingesetzt werden dürfen, wenn alle anderen Präparate versagen. Kontrolle gibt es so gut wie keine. "In den vergangenen Jahren hat der Verkauf von Medikamenten ohne Verschreibung stark zugenommen. Dies ist im Wesentlichen ein Resultat des exponentiellen Wachstums der Pharmaindustrie Indiens", kritisiert "Lancet".

Der Fall von Rekha zeigt, wie in Indien TB oft nicht erkannt, unzureichend behandelt und verschleppt wird. Drei Jahre lang lebte sie mit ihrem Mann in Bhiwandi, einem Vorort der Finanzmetropole Mumbai. Die Stadt ist ein Zentrum der indischen Textilindustrie, die hier rund eine Million Menschen beschäftigt. Hunderttausende von ihnen sind Wanderarbeiter, die sich in den rasch wachsenden Slums der Stadt niedergelassen haben.

Zurück ins Heimatdorf

Schlechte hygienische Bedingungen, offene Kanalisation und viele Menschen, die auf engstem Raum zusammenleben, machen die Kolonien zu einer Brutstätte für Krankheiten. Rekhas geschwächtes Immunsystem hatte den Erregern wenig entgegenzusetzen. Als sie trotz der teuren Medikamente nicht gesund wurde, schickte ihr Mann sie zurück in ihr Heimatdorf im Latur-Distrikt, rund 400 Kilometer von Mumbai entfernt.

Sachin Mhaske, Arzt in einem Krankenhaus im Latur-Distrikt, kennt diese Fälle. "Private Ärzte verschreiben hohe Dosen Antibiotika. Diese überdecken die TB-Symptome wie Husten und machen den Patienten zudem manchmal auch resistent gegen das Antibiotikum", sagt er. Die Patienten, die nicht wissen, dass sie Tuberkulose haben, stecken dann andere im Dorf an. Die Krankheit verbreitet sich so weiter.

Alle Ärzte müssten Tuberkulosekranke an staatliche Kliniken überweisen, wo die Betroffenen umsonst mit Medikamenten versorgt werden, doch viele tun dies nicht, weil sie die TB-Patienten nicht verlieren wollen. Die meisten Kranken erfahren nie, dass es die teuren Antibiotika, die sie selbst bezahlen müssen, in staatlichen Kliniken umsonst gibt.

Viele Kranke verschulden sich

Viele Kranke verschulden sich, müssen sich Geld leihen, um ihre Behandlung zu finanzieren. 41 Prozent aller TB-Kranken in Indien bekommen keine staatliche Hilfe. Rekha hatte Glück: Sie wurde schließlich in einer Klinik behandelt. Heute ist sie TB-frei.

Die Therapie selbst ist lang und qualvoll: Je nach Erreger dauert sie zwischen sechs Monaten und fünf Jahren. In diesem Zeitraum muss der Patient jeden zweiten Tag sieben Tabletten nehmen: Die häufigsten Nebenwirkungen sind Übelkeit, Schwindel, Hörschwierigkeiten, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und Angstzustände.

Bei multiresistenten Erregern, die nicht mehr mit den gängigen Antibiotika zu bekämpfen sind, ist die Behandlung länger, und die Nebenwirkungen sind schwerer. Ohne eine gute ärztliche Betreuung brechen viele Patienten die Behandlung vorzeitig ab. Damit entwickeln sich immer mehr resistente TB-Erreger-Stämme – ein Teufelskreis. (Agnes Tandler aus Neu-Delhi, 7.11.2016)