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Gegen den vorherrschenden Realismus: Sibylle Lewitscharoff.

Foto: dpa / H. Hanschke

Welcher Philologe träumt nicht davon, seiner geistigen Arbeit manifeste Erfahrungen entgegensetzen zu können? Wer sich mit Literatur befasst, kann immerhin Geburtsorte und Wohnhäuser von Autoren besichtigen, ihre Wirkungsstätten bereisen, um dort literarischen Landschaften nachzuspüren. Wenn sie auch eine Sehnsucht befriedigen, haben derlei Erlebnisse für die eigentliche Forschung aber kaum Bedeutung, hier bleiben Texte die relevanten Faktoren.

In diesem Sinne hebt Sibylle Lewitscharoffs neuer Roman Das Pfingstwunder furios an: Lewitscharoff lässt eine Gruppe von Romanistikprofessoren erst Canto für Canto durch Hölle und Purgatorium der Göttlichen Komödie debattieren und belohnt sie dann für ihre literaturwissenschaftlichen Mühen mit einem leibhaftigen Aufflug ins Paradies.

In seiner Komödie aus dem frühen 14. Jahrhundert (die das Attribut der "Göttlichen" erst von der Nachwelt erhalten hat) entwirft Dante einen präzisen Plan der vom Schweregrad der irdischen Sünden abhängigen Höllenqualen. Dante steigt, als einzig Lebender unter den Toten, unter der Führung des Dichters Vergil bis auf den Grund einer trichterförmigen Hölle hinab, erklimmt den Läuterungsberg und gelangt durch zehn Himmelssphären ins Paradies. Es gibt viele Gründe, in der Hölle zu landen. Dantes dreiteiliges Epos (Hölle, Purgatorium, Paradies), das erste in italienischer Sprache, verrät mit seinen Ausschmückungen der Unterwelt viel über die Moral seiner Zeit. Dantes Hölle hat es Lewitscharoff angetan, ihr ist der Großteil des Romans gewidmet.

Zu Pfingsten 2013, so Lewitscharoffs Setting, tagen 34 internationale Dante-Forscher im Prunksaal des Malteserordens auf dem Aventin in Rom. Ehe sie völlig außer sich geraten, in Zungen sprechen und schließlich einer nach dem anderen auf die Fenstersimse des Tagungsraums klettern und in den römischen Abendhimmel entschweben, haben die Gelehrten schön der Reihe nach die Stationen von Dantes Jenseitswanderung bis auf die Spitze des Läuterungsberges analysiert.

Sitzen geblieben

Unter die fiktiven Forscher hat Lewitscharoff den deutschen Romanisten Manfred Hardt (1936-2001) eingeschleust, der sich mit seiner Arbeit über die Zahl in der Komödie einen Namen gemacht hat. Dantes Zahlensymbolik wird von Lewitscharoff aufgegriffen und für die Struktur des Romans verwendet, der aus 34 Kapiteln besteht, so wie das Inferno der Komödie 34 Canti zählt.

Vortrag für Vortrag rekapituliert Gottlieb Elsheimer, der Ich-Erzähler, den Kongress. Elsheimer, der 62-jährige Professor aus Frankfurt, ist als Einziger von den verschwundenen Romanisten übriggeblieben. Ein "Realitätsrest" habe ihn dazu gezwungen, sitzen zu bleiben. Das rationale Weltbild des Forschers wackelt. Während laut seiner Schilderung die Stimmung der Kollegen immer ausgelassener wurde, wird es für den Leser zäh. Das erzählerische Modell bedingt Längen und Wiederholungen. Jeder Vortragende wird mit einer genauen Schilderung gewürdigt: Alle sind sie fachlich hervorragend. Vereinzelt sind sie "dantefromm".

Manche Motive werden arg überstrapaziert, etwa der Charme des zuhörenden Hundes und das darstellerische Talent der Redner, die, kaum sprechen sie von ihrem Idol, wie elektrisiert sind. Der Ich-Erzähler ist indes auf halbem Läuterungsweg steckengeblieben. Seine Aufzeichnungen sind Protokoll und Selbstbefragung. Die narzisstische Kränkung des Nichtauserwählten und die Erschütterung des Vernunftmenschen angesichts eines Wunders sind seine psychischen Nöte, Schlaf und Nahrungsaufnahme seine physischen.

Höhenflüge in theoretischen Passagen

Zurück in Frankfurt überlegt der Professor, zur Heilung seiner Sinnkrise einen Flüchtling aufzunehmen: "Zöge ein Flüchtling bei mir ein, würde ich vorher aufräumen und gründlich putzen, damit der fremde Mensch gar nicht erst auf die Idee käme, hier könne man getrost alles herumliegen lassen." Geht es darum, das "Vorkommnis" in Rom zu deuten, greift er auf Plattitüden zurück: "Die Wahrheit ist mitten unter uns getreten. Ich kann's nicht anders sagen. (...) Sie wurde von einem Sehnsuchtswind getragen, den der Flügelschlag eines Engels erzeugte."

Doch natürlich ist Das Pfingstwunder nicht allein die Nacherzählung eines fiktiven Kongresses, es besteht vielmehr zu weiten Teilen aus Reflexionen, die aus einem intensiven Dante-Studium hervorgehen. In diesen theoretischen Passagen schwingt sich Lewitscharoff zu wahren Höhenflügen auf. Sie vergleicht deutsche Commedia-Übersetzungen, sinniert über Moral und Glauben, über Dante-Darstellungen in der Kunst – Lewitscharoff liefert ein ebenso anspruchsvolles wie geballtes Kulturpaket.

Auffällig ist die stilistische Diskrepanz zwischen den hoch elaborierten, assoziativen Interpretationsflügen, die man Lewitscharoff zuschreiben möchte, und den flapsigen Bemerkungen des Ich-Erzählers Elsheimer ("Heilandzack, was bin ich heute vergnügt").

Dass die Autorin für längere Exkurse die Deckung ihres Erzählers verlässt, ohne sich aber von ihm loszulösen, ihm womöglich dialogisch gegenüberzutreten, ist ein formales Problem dieses Romans. Vereinzelt stellt Elsheimer mit einem lakonischen Kommentar die vorangegangenen Ausführungen infrage – oder bringt sie "down to earth" -, mitunter wirkt sein anbiedernder Bericht aber auch wie eine etwas lieblose Fortführung des Romanplots, der zwischen die theoretischen Passagen montiert ist.

Die Zeichnung des unbefangenen, bornierten Ich-Erzählers als saturierter Antiheld ist eine Stärke dieses Textes. Elsheimer hätte das Zeug zu einem großen Romanprotagonisten, Lewitscharoff zu einer inspirierten Romanistin. Das Pfingstwunder bleibt aber als Roman und als Essay fragmentarisch. Dabei nimmt Lewitscharoff den herrschenden erzählerischen Realismus von zwei Seiten in die Mangel: Sie simuliert ein Wunder und frönt zugleich der Wissenschaft. Ein großartiges Unterfangen – in der Theorie. (Isabella Pohl, 5.11.2016)