Bernhard Günther, bisher Dramaturg der Philharmonie Luxembourg, über Wien Modern: "Ich möchte ein Festival mit Charakter präsentieren, dazu braucht es Stücke mit Charakter."

Foto: rerhuf

Ein Festival muss ein vom Alltag sich distanzierender Ausnahmezustand sein. Und ein neuer Programmdenker eines Traditionsfestivals wie Wien Modern muss mit markanten Statements antreten. Alle Streichquartette von Schostakowitsch simultan mit 15 Ensembles zu präsentieren – das klingt jedoch gar verwegen!

Bernhard Günther genießt das Staunen mit leichter Genugtuung. "Es dauert 80 Minuten. Mitten im ausgeräumten Großen Saal des Konzerthauses werden das 14. und 15. Quartett auf einem Podest vom Jack Quartet und vom Arditti Quartet gespielt. Das 13. sitzt in der Direktionsloge, die anderen zwölf sind unten im Saal an den Wänden, auf der Bühne und in der Orgel verteilt." Das 15. beginne allein, wie in einem Fugato kämen die nächsten beiden hinzu, es gibt Duette, Terzette, "alles verdichtet sich mehrmals bis fast zum Tutti, knapp eineinhalb Minuten lang spielen alle 15 gleichzeitig."

Das Publikum könne bei dieser Quartettstapelung "leise herumwandern – jeder wird das Konzert anders hören. Das ist natürlich nichts für Puristen. Aber die dunkle Energie, die diese existenziellen Stücke haben, erreicht durch diese Überlagerungen eine enorme Dichte und sinnliche Qualität", so der 1970 in Thun Geborene, der sicher eine stressige Phase hinter sich hat. Er sei "Ende 2014 bestellt" worden, und "ein solches Festival in weniger als zwei Jahren zu konzipieren war schon sehr sportlich. Für die 55 Ur- und Erstaufführungen, die tatsächlich rechtzeitig fertig geworden sind, musste einiges an Überzeugungsarbeit bei den Künstlern geleistet werden."

Ein Stück muss aber auch überzeugen: "Es soll nicht lauwarm sein. Oder wenn, dann bitte so ex trem lauwarm, dass es schon wieder ein Statement ist! Ich bin auf der Suche nach Werken, die sich etwas trauen, suche Komponisten und Komponistinnen, die etwas zu erzählen haben, die in unserer Gegenwart eine Position beziehen. Eine individuelle Handschrift geht damit oft Hand in Hand, wobei man das auch übertreiben kann. Manchmal beschleicht mich das Gefühl, jemand habe dasselbe Stück schon früher geschrieben – nur besser ..." Er wolle ein Festival mit Charakter präsentieren, "dazu braucht es eben Stücke mit Charakter".

Riesiges Gebilde

Bei Wien Modern soll "man die Dynamik und Widersprüchlichkeit der Neuen Musik merken. Wir sind heuer extrem generationenübergreifend, mit Haas und Cerha, Neuwirth und Mahler, Schubert, Schiske, Schönberg und Eva Reiter. Ich finde es spannend, wenn man spürt, dass es sich um ein riesiges Gebilde handelt, das sich verändert und entwickelt." Das Festival habe ja im Laufe seiner Geschichte immer wieder "anders ausgesehen. Ich sehe das als Bereicherung – wie bei einem alten Baum, der neue Zweige treibt, neue Formen entwickelt. Wien Modern muss weit ausstrahlen, dafür gehen wir Risiken ein. Bei den Subventionen sind von der Stadt Wien bislang erst 650.000 Euro zugesagt worden – statt der geplanten 700.000. Die Kürzung wurde angedeutet, als die Planung längst abgeschlossen war. Aber das ist ein laufendes Verfahren, ich hoffe auf eine Nachbesserung", so Günther.

Das Motto des Festivals – "Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Und wo zum Teufel sind wir hier überhaupt?" – soll aber nicht als flehendes Fragen Richtung Kulturpolitik gedeutet werden.

Suche nach Identität

Es geht quasi um die Dringlichkeit des Festivals: "Letzte Antworten gibt es natürlich nie. Mir ist wichtig, dass diese Art der Themensetzung spüren lässt, dass es bei Wien Modern um die Gegenwart geht, nicht um Spezialfragen für Fachleute. Das düstere Thema liegt heuer in der Luft – die Identitätssuche ist ja gerade im Begriff, zur zweiten Natur der westlichen Welt zu werden. Und diese Fragen machen auch ein Feld für die Musik auf: Wo das Begriffliche endet, fängt die Musik erst richtig an." Prinzipiell soll sich das Festival jedes Jahr etwas anders anfühlen: "Heuer sind wir sehr ernst, sehr retrospektiv und sehr wienerisch. 2017 geht es Richtung ,Bilder im Kopf‘ – mit Projekten rund um Imagination, Farben, Bilder, Video und Film."

2018 würde das Thema "Sicherheit" stärker in eine konzeptuelle Richtung ziehen: "Harnoncourt hat oft gesagt, in der Kunst gäbe es Schönheit oder Sicherheit, beides zusammen gehe nicht. Kunst kann nur gelingen, wenn man Risiko eingeht – das gilt aber oft auch für das Leben. Und neben der sehr musikalischen Frage, wie man sich auf der Skala zwischen Freiheit und Kontrolle bewegt, geht es 2018 auch um den fortschreitenden Sicherheitswahn in der Gesellschaft." Vorerst aber werden die letzten Fragen hoffentlich originell tönend beantwortet. (Ljubiša Tošić, 30.10.2016)