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Die scheinbar zeitlose Karriere des Noriaki Kasai sucht nicht nur im Wintersport ihresgleichen. Ihr Ende ist terminisiert, aber deshalb nicht naheliegend.

Foto: Reuters/Ebenbichler

Örnsköldsvik am Bottnischen Meerbusen hat für Ernst Vettori größere Bedeutung, als es selbst die doch da ansässigen Örnsköldsviker ermessen können. Schließlich fanden auf der hiesigen, Paradiskullen genannten Sprungschanze der schwedischen Industriestadt 1980 die ersten Juniorenweltmeisterschaften statt, die der zierliche und damals mit nicht einmal 16 Jahren auch noch sehr junge Mann aus Absams in Tirol schmückte.

Zwölf Jahre später, im März 1992, feierte der gereifte Vettori in einem Normalschanzenspringen seinen 15. und letzten Weltcuperfolg für sich selbst – just in Örnsköldsvik. 1,5 Punkte hinter dem Olympiasieger und Mannschaftsweltmeister landete Noriaki Kasai an zweiter Stelle. Für den seinerzeit 21-jährigen Japaner war es der zweite Podestplatz nach einem wenige Wochen zuvor in Lahti ersprungenen dritten Rang, ebenfalls von einer Normalschanze.

Zahlen und Wunder

Seinen bisher letzten Podestplatz, den 78., ersprang Kasai im März dieses Jahres auf der Großschanze in Wisla, Polen. Das umreißt das Wunderbare der Karriere des Mannes aus Shimokawa auf Hokkaido zwar in Zahlen, erklärt aber nicht die ganze Tragweite. Daran versucht sich Ernst Vettori, der ehemalige Skisprungkollege, der heute als für Sprunglauf und Kombination zuständiger sportlicher Leiter im österreichischen Skiverband wirkt.

"Kasai verblüfft uns Jahr für Jahr aufs Neue", sagt der Tiroler zum ewigen Skispringer. Eine bald 28-jährige Karriere im Spitzensport sei schon an sich sehr bemerkenswert, "aber sie ist es im Skispringen umso mehr. Schließlich ist die Belastung, über die Schanzen dieser Welt zu springen, in vielerlei Hinsicht besonders groß."

McFerrin und Boklöv

Als Kasai seine ersten Wettkampfsprünge außerhalb Japans absolvierte, war gerade das erste Pre-GSM-Handy, MicroTAC von Motorola, auf den Markt gekommen. Bobby McFerrin munterte mit "Don't Worry, Be Happy" auf, und die Skisprungszene war insgesamt vor eine geradezu unerhörte Herausforderung gestellt. Der davor sportlich reichlich unauffällige Schwede Jan Boklöv hatte – einer von ihm selbst genüsslich verbreiteten Legende nach – durch einen verunglückten Trainingssprung herausgefunden, dass mit einer in Sprungrichtung offenen V-Stellung der Ski wegen der Vergrößerung des Luftpolsters weit größere Weiten zu erzielen sind als mit der herkömmlichen, klassisch genannten Paralleltechnik. Obwohl die Punkterichter zunächst nur diese vollumfänglich zu honorieren gedachten und Boklöv um viele Siege brachten, gewann der Technikerneuerer 1989 den zum fünften Mal ausgetragenen Weltcup. Die Skisprungnationen, zuvorderst Österreich, gingen ans Umlernen. Just Ernst Vettori war der erste zuvor als Klassiker siegreiche Springer, der auch im V-Stil gewinnen konnte.

Auch Kasai lernte um. Im Laufe der Jahre folgten weitere Innovationen im Skisprung, wenn auch nicht ganz so einschneidende. Kasai machte alle Änderungen mit, ob sie nun kraftvolle Abspringer oder federleichte Flieger favorisierten, echte Athleten oder echte Hungerhaken. Und er blieb die meiste Zeit über konkurrenzfähig. "Das größte Problem ist ja, die Wettbewerbsfähigkeit zu behalten. Da haben die meisten die größten Probleme – überhaupt, wenn sie schwere Stürze hatten", sagt Vettori. Allgemein bevorzuge eine Sportart, die wie das Skispringen hohe Schnellkraft voraussetzt, eher jüngere Sportler, "weil in diesem Bereich wird man eher nicht besser, wenn man älter wird".

Kasai ist zumindest nicht schlechter geworden. Dies trotz der Anforderungen, die speziell an japanische Sportler gestellt werden, die in einem Metier erfolgreich sein wollen, das seine wichtigsten Events in Europa steigen lässt. Vettori: "Die Japaner sind eigentlich den ganzen Winter weg von zu Hause, auch das ist eine unerhörte Belastung."

Mittlerweile verzichtet Kasai zumindest auf die sommerlichen Mattenspringen, der 44-Jährige ist schließlich Vater geworden. Die Chancen, dass er immer noch springt, wenn Tochter Rino eingeschult wird, stehen gut. Sapporo hat sich für die Olympischen Winterspiele 2026 beworben. Erhält die rund zwei Millionen Einwohner zählende Metropole der nordjapanischen Präfektur Hokkaido den Zuschlag für seine zweiten Spiele nach 1972, dann will der größte Sportler der Region als Aktiver dabei sein.

Gold und Leid

Olympisches Gold fehlt dem Erfolgssammler, der zwischen 2004 und 2013 eine diesbezüglich ziemliche Durststrecke zu überwinden hatte, ebenso wie ein Weltmeistertitel, wenn man von jenem im Skifliegen 1992 in Harrachov absieht. Noch heute kommt es Kasai hart an, über eine schwere Enttäuschung zu sprechen, die er 1998 zu verdauen hatte, als er für die olympischen Heimspiele in Nagano nicht nominiert war. Ausgerechnet dort holten die japanischen Springer Mannschaftsgold.

Die Jagd nach dem einen, großen Sieg, treibt Kasai ebenso an wie die Lust, den nächsten Hunderter vollzumachen. "Meine Lieblingszahl ist sechs. Ich möchte 600 Starts erreichen", sagte Kasai in einem Interview, nachdem er seinen 500. Einzelweltcup gesprungen war. Inklusive der Teambewerbe kommt er ohnehin schon auf 562 Weltcupkonkurrenzen.

Neigung und Pflicht

Es ist allerdings auch möglich, dass dem Zugvogel Kasai vor einer Zukunft in einem Büro graut. Wie alle japanischen Topspringer ist er Angestellter einer Privatfirma. Das Immobilienunternehmen Tsuchiya Holdings unterhält dafür extra den Skiklub Tsuchiya Home, dessen Aushängeschild Kasai ist und dem noch zwei weitere Skispringer sowie eine -springerin angehören. Seinem Arbeitgeber fühlt sich Kasai nach eigenen Aussagen besonders verpflichtet, weil der auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten sein zweifellos teures Sportprogramm nicht zur Disposition stellte.

Ernst Vettori vermeint schon seinerzeit in Örnsköldsvik, als Kasai mit ihm aufs Podest stieg, deutlich gespürt zu haben, dass es dieser junge Japaner zu mehr als zum in der Szene oft gesehenen flüchtigen Ruhm bringen könnte. Treffen mit Kasai, den er als extrem höflichen, absoluten Gentleman beschreibt, sind trotz Sprachbarriere stets angenehm. "Er gibt mir das Gefühl, dass er sich freut, wenn er mich sieht." Das nächste Mal wohl wieder zum Auftakt der 29. Weltcupsaison für Kasai – am 25. November in Ruka, Finnland. (Sigi Lützow, 31.10.2016)