Der Vater im Jahre 1977. Da war er 52 und ein ziemlich alter Mann. Offenbar bleibt man heute länger jung. Oder glaubt es zumindest.

Foto: Conrad Seidl

Als mein Vater so alt war wie ich jetzt, war er schon zwei Jahre in Pension. Ich habe das kürzlich meiner Frau gesagt, und die hat spontan geantwortet: "Der war aber auch älter."

Das stimmt natürlich aus damaliger Perspektive: Wir waren 1981 Anfang 20, da hält man einen 56 Jahre alten Mann für relativ alt.

Altern in Zeiten des Krieges

Es stimmt aber wohl auch objektiv: Wer wie mein Vater 1925 geboren wurde, der war 13, als Hitler gekommen ist, wurde mit 18 zur Wehrmacht eingezogen, kam – wenn er das Glück hatte, einem zweifelhaften Heldentod und der Kriegsgefangenschaft zu entgehen – als 20-jähriger Veteran in ein kriegszerstörtes Land. Wirkte nach Kräften an dessen Wiederaufbau mit, zunächst noch mit 50-Stunden-Arbeitswochen, dann sank die Arbeitszeit auf 48 Stunden, später auf 43, und erst 1975 war die 40-Stunden-Woche allgemein eingeführt.

Da alterte man rascher. Verging die Zeit dadurch rascher?

Jedenfalls: Da war nicht viel zu erinnern an eine "gute alte Zeit" – obwohl der Vater viele gute Erinnerungen mit uns Kindern zu teilen wusste. Wenn man altert, stimmt die Erinnerung ja milde. Und die guten Erinnerungen betrafen selten die Jugendjahre. Wie denn auch?

Generationenphänomen "dritte Zähne"

Der Körper, der erinnert sich aber an die schlechten Zeiten. An Mangelernährung in der Kindheit zum Beispiel. In den 1960er-Jahren hatte mein Vater bereits einen Zahnersatz – "dritte Zähne" hat man das genannt. "Wer es kennt, nimmt Kukident" war um 1965 ein gängiger Werbeslogan. Es war ein Generationenphänomen, Menschen ab 40 hatten einfach ein lückenhaftes Gebiss, ziemlich unabhängig von der sozialen Stellung, die sie sich erarbeitet hatten.

Und der Vater, immerhin ein höherer Landesbeamter, bildete da keine Ausnahme. So gesehen muss er mir schon "alt" erschienen sein, als ich in der Volksschule war – also in jenem Alter, in dem man so etwas wie einen Zeitbegriff bekommt: Wir Kinder waren jung, ein 18-jähriger Vetter kam uns schon alt vor. Erwachsen. Erwachsene, das sind die, die miteinander per Sie verkehren. Vater und Mutter waren sehr alt – selbst in ihrem Freundeskreis waren die Erwachsenen meist per Sie,

Mit 60 eigentlich schon Greise

Und erst die Großeltern! Die waren gerade etwas über 60, aber eigentlich schon Greise. Als Volksschüler lernt man das mit Zahlen zu belegen, lernt Maß zu nehmen: Menschen im siebenten Lebensjahrzehnt, so war die Beobachtung, die wir Kinder machten, sind schon sehr alt und sehr gebrechlich.

Oma und Opa erzählten auch, "was ihr euch nicht vorstellen könnt: was richtiger Hunger ist, wie das ist, wenn man tagelang nichts zu essen bekommt". Konnten wir uns tatsächlich nicht vorstellen, wollten es uns nicht vorstellen können. Wollten es nicht erleben, und haben es, Gott sei Dank, auch nicht erlebt.

Als das Jahr 2000 ferne Zukunft war

Wir waren ja Kinder der Sechzigerjahre, wir hatten ein Leben vor uns. Das Jahr 2000 – weit weg, irgendwo in einer utopischen Zukunft mit Raketenautos und Marskolonien. Da würde ich 42 Jahre alt sein, rechnete ich mir aus – also älter als mein Vater zu dem Zeitpunkt war, zu dem ich eine Vorstellung von Zeit bekommen habe.

Ich eines Tages 42 Jahre alt?

Die langen Volksschul-Jahre

So weit reichte meine Vorstellung dann doch nicht. Dauerte ein Jahr doch schon so lang! Strukturiert durch Schulbeginn, Weihnachtsferien, Osterferien, Zeugnisverteilung und lange Ferien. Ein Jahr. Ein Siebentel der Lebenszeit eines Siebenjährigen. Heute: ein Achtundfünfzigstel der Lebenszeit eines Achtundfünfzigjährigen. Kein Wunder, dass einem die Jahre jetzt so kurz vorkommen!

Damals hat sich auch so wenig getan! In die kindliche Wahrnehmung sind als markante Ereignisse bloß gedrungen, dass die Kennedys erschossen worden sind – nach beiden Attentaten waren die Eltern erkennbar traurig, Hoffnungen auf Weltfrieden weg. Niederschlagung des Prager Frühlings und Mondlandung. Und ein Bundeskanzler namens Josef Klaus.

Mit Kreisky vergeht die Zeit schneller

Dann der 1. März 1970, der unvergessliche Wahlsieg Bruno Kreiskys. Plötzlich wurde die Politik interessant, Gesetze und Gesellschaft änderten sich rasch. Man konnte zuschauen, konnte dabei sein. Es änderte sich der Zeitgeist, es änderte sich aber auch das persönliche Zeitgefühl.

Erwachsenwerden, indem man Interesse für Politik und Wirtschaft entwickelt.

Ich weiß mich noch – tatsächlich "wie gestern" – an meinen ersten Besuch im Parlament zu erinnern. Im Juli 1972 war das, die ÖVP hatte wegen des Baus der Uno-City eine Sondersitzung mit dringlicher Anfrage einberufen. Kanzler Kreisky, der damals noch recht jung wirkte, antwortete grantig und langatmig. Und die Zweite Republik war ja auch noch relativ jung – 27 Jahre, das ist der gleiche Zeitraum, der seit dem Fall der Berliner Mauer vergangen ist.

Immer wieder erwische ich mich dabei, solche Vergleiche zu ziehen. Oder dabei, dass ich auf der Zeitachse wie mit einem Zirkel abschlage: Da spielt das Radio 40 Jahre alte Lieder von Bob Dylan, und sie wirken passend. Hätte man damals in den 1970er-Jahren 40 Jahr alte Musik im Radio gespielt, hätte die jemand hören wollen, hätte die aktuell gewirkt?

Oder vorwärtsschauend: Sieben Jahre noch bis zum Regelpensionsalter. Und zurück: Was war vor sieben Jahren? Da ist der Vater gestorben. Ich denke oft an ihn. (Conrad Seidl, 29.10.2016)