Filme über Thanksgiving-Familientreffen könnten Cristi Puius Sieranevada als Modell gestanden haben. Vertreter unterschiedlicher Generationen treffen ein Wochenende lang im alten Zuhause aufeinander, bei den Tischgesprächen räsoniert man über die Vergangenheit, bald kommen alte Wunden zum Vorschein, man gerät in Streit. Doch die kathartische Wende kommt so sicher wie der nächste Morgen. Am Ende blickt man ein wenig versöhnlicher in die Zukunft. Zumindest im amerikanischen Vorbild.
Nicht ganz so beim Rumänen Cristi Puiu, der diese Form des sozialen Miteinanders in seinem herausragenden, fast dreistündigen Film eher wie einen Belastungstest begreift. Die Ventile werden aufgedreht, was und ob dabei etwas hochgeht, ist ungewiss. Aggression ist jedenfalls von Anfang an latent im Spiel. Minutenlang starrt die Kamera auf ein hässliches Straßenstück in Bukarest, auf dem der Verkehr zum Erliegen kam. Der Schnitt ins Innere eines Autos, zu Lary (Mimi Branescu) und seiner Frau Laura (Catalina Moga), bringt keine Entspannung: ein Bild für die Nervosität, mit der das Paar der Gedenkveranstaltung für Larys vor genau 40 Tagen verstorbenen Vater entgegensieht.
Mit dem Blick eines Toten
Schauplatz der Feier, für die es einen orthodoxen Priester braucht, der dann über Gebühr auf sich warten lässt, ist die alte Familienwohnung, ein herrlich vollgeräumter, ein wenig muffig wirkender Ort, in dem sich auch der Film einrichten wird. Angeschubst von Larys Mutter findet sich rund ein Dutzend Gäste ein, Schwester, Brüder, Tanten, Onkel oder auch eine junge betrunkene Frau, die den Film im Nebenzimmer verschläft. Die genauen Beziehungsverhältnisse, wer also zu wem gehört – und warum es diesen und jenen Grabenkampf gibt –, das ist hier nicht immer schnell zu entschlüsseln.
Das Vorzimmer ist die Schaltzentrale des Films. Von dort dringt die Kamera, die hier und da die Übersicht verliert, in Augenhöhe in die einzelnen Zimmer vor. Der Regisseur sagt, das sei der Blick des Toten, der an den Gesprächen, Auseinandersetzungen und Gefühlsausbrüchen der Hinterbliebenen Anteil nimmt. Das ist freilich auch symbolisch zu verstehen, obgleich ein Naturalist wie Puiu damit ganz faktisch verfährt. Der Patriarch ist tot, übrig bleiben widersprüchliche Erzählungen, Verschwörungstheorien oder hilflose Nostalgie. Das Profane und das Politische liegen hier ganz nah beisammen, wenn sie nicht ein und dasselbe sind.
Puiu lässt seinen Film bezeichnenderweise am 10. Jänner 2015, also nur drei Tage nach dem Terrorattentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo spielen. Die Verunsicherung durch dieses Ereignis sickert auch in die Familienzusammenkunft ein, ohne dass es zum dominanten Thema würde. Noch ausdrücklicher als in seinen bisherigen Filmen (Der Tod des Herrn Lazarescu, Aurora) erzählt Puiu von einer Gesellschaft, die mit der Deutung der Gegenwart überfordert ist und Zuflucht in Meinungen sucht, die keinen Zusammenhalt mehr gewähren. (Dominik Kamalzadeh, 29.10.2016)