Zeit und Raum sind keine Gegenstücke, sie ergänzen einander, sagt Wolfgang Müller-Funk.

Foto: Heribert Corn

Beginnen wir einfach mit der Behauptung, dass Zeit, für den modernen Menschen etwas ganz Selbstverständliches, eines der kompliziertesten Phänomene in unserem Leben darstellt, letztendlich viel komplizierter ist als der heute kulturwissenschaftlich so populäre Raum, der übrigens weniger ein Gegenstück, sondern viel eher ein Komplement darstellt.

Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die unsichtbare Zeit, die sich nur indirekt zeigt, aber eben nicht sichtbar ist, zumeist mit räumlichen Metaphern veranschaulicht wird. Klarerweise ist nämlich der Zeitraum kein Raum, sondern der Versuch, die Zeit fassbar zu machen und einen Zeitabschnitt – wieder eine räumliche Metapher – so zu fixieren, als handle es sich bei der Zeit um einen Raum.

Fast alle Zeitmesser, die zugleich Zeit objektivieren und für alle gleich machen, kommen nicht ohne räumlichen Behelf aus, so etwa die alten Sand-, Wasser- und Sonnenuhren. Die traditionelle Armbanduhr ist ein Anschauungsobjekt, auf dem sich Zeiger auf einer markierten Kreisfläche bewegen. Die blanke, abstrakte Zahl von heute ist der vorläufige Endpunkt der Abstraktion.

Am Ufer des Zeitflusses

Auch die berühmte Metapher des Flusses, die das Vorübergehende und Unumkehrbare der Zeit versinnbildlicht, ist der Versuch, Zeit "sinnlich" einzufangen. Das Bild des grübelnden Philosophen am Ufer hat einen Fehler: Er befindet sich scheinbar außerhalb des Flusses, aber eigentlich müsste er sich selbst in ihm befinden.

Mit diesem Tableau wird eine menschliche Gestimmtheit sichtbar, die ohne die Zeit undenkbar ist: die Melancholie, der Schmerz darüber, dass alles unwiederbringlich verloren ist. Dass nichts bleibt, wie es war. Während der Raum also Stabilität verbürgt, ist mit der Zeit stets Unsicherheit verbunden. Übrigens versuchen alle Utopien und Paradiese, die Zeit stillzustellen.

Dass die Zeit ein höchst verzwicktes Phänomen ist, wissen wir seit dem heiligen Augustinus, der, wenn man so will, die Zeit dadurch bestimmte, dass sie nicht ist. Denn die Vergangenheit ist nicht, sie ist schon vergangen, und die Zukunft hat noch nicht stattgefunden; die Gegenwart wiederum lässt sich nicht anhalten. Zeit ist flüssig, sie passt nicht zu jenem Wort "sein", das Stabilität zu verbürgen scheint. Zeit wäre also nur, wenn die Zeiger stillständen, aber dann gäbe es keine Zeit mehr, sondern allenfalls eine Endlosschleife.

Fundament aller Geschichte

Anders, als noch Immanuel Kant dachte, ist die Zeit nicht etwa eine unabhängige Größe, sondern sie, die doch das Fundament aller Geschichte und aller Geschichten sowie die Basis allen Erzählens darstellt, hat selbst eine Geschichte. Menschen zu verschiedenen Zeiten und in anderen Räumen haben in anderen Zeitmustern gelebt. Kurzum, die Zeit ist nichts Natürliches, sondern ein kulturelles Konstrukt.

Die traditionelle Kulturgeschichte ist so weit gegangen zu behaupten, dass die griechische Antike eine Kultur des Raumes und die jüdisch-christliche Welt eine der Zeit gewesen sei. Daran ist mindestens wahr, dass die Antike keine zielgerichtete Erlösungsgeschichte kennt, die von einem Anfang, der Schöpfung, über einen Sündenfall zu einem erlösenden Ende führt, wie dies im Messianismus von Judentum, Christentum und tendenziell auch im Islam der Fall ist.

Die Geschichte der Zeit hat indes noch eine ganz andere Dimension. Die okzidentale Moderne erweist sich als das ehrgeizige Projekt, die Zeit zu zähmen, sie in mathematische Einheiten zu zerhacken, sie messbar zu machen und zu verallgemeinern, sodass sie als objektive Zeit für alle sichtbar ist. Ohne diese kulturelle Zurichtung der Zeit wäre die technisch und sozial komplexe Welt undenkbar.

In ihrer Bedeutung lässt sich die objektivierte Zeit nur mit dem Geld vergleichen, das freilich ohne die neuen objektiven Zeitmuster undenkbar wäre. Was sind Zins und Kreditnahme anderes, als Geld, das man nicht hat, zu investieren in der Hoffnung, dass es zu einem späteren Zeitpunkt – übrigens wieder eine Raummetapher – so viel einbringt, dass man nicht nur die Schulden zurückzahlen, sondern von dem so Erwirtschafteten probat leben kann?

Zeitregime mittels Glockenschlag

Die moderne Gesellschaft, vom Flugverkehr bis zur Eisenbahn, von der Schule bis zu unserem Terminkalender und allen modernen Institutionen, ist undenkbar ohne die Zeitmessung, die in den von der Gesellschaft abgewandten Klöstern zu Ende des Mittelalters ihren Anfang nahm, um für alle Mönche – mittels Glockenschlags – ein gültiges Zeitregime zu etablieren, das sich nicht länger auf ein Ungefähr des Sonnenstands verließ. Es war übrigens die Eisenbahn, die maßgeblich zur Schaffung von einheitlichen Zeitzonen geführt hat und der Wiener und der Prager, der Mannheimer und der Heidelberger Zeit ein Ende bereitet hat.

Schließlich ist die moderne Zeitung, die vielfach das Wort "Zeit" oder "Time" im Namen trägt, das zentrale Medium des Gutenberg-Zeitalters, ein kulturelles Geschöpf neuer Zeitmuster und Zeitregime. Was geschehen ist, soll möglichst zeitnah erzählt und analysiert werden. Die Zeitung versucht das schier Unmögliche: die zeitliche Kluft zwischen einem Geschehen, nah wie fern, und seiner narrativen Wiedergabe zu schließen.

Nachfolgende technische Medien haben diese Idee "chronisch" radikalisiert, das Radio, das Fernsehen und das digitale Netz unserer Tage. Aber die Kernüberlegung von Aktualität ist bereits in das Gutenberg-Medium Zeitung eingeschrieben. Ohne solche verallgemeinerten Zeitmuster wäre der kulturelle Effekt der "Globalisierung" undenkbar: in einem virtuellen Raum scheinbar in derselben Zeit zu leben.

Symptome des Unterworfenseins

Die Kehrseite davon ist, dass wir, die wir uns scheinbar die Zeit unterworfen haben, von ihr unterworfen sind – auch eine Dialektik der Aufklärung. Die Sehnsucht nach Entschleunigung und die Suche nach "zeitlosen" Nischen der Langsamkeit sind Symptome dieses Unterworfenseins. Wie schön, plötzlich eine alte Zeitung zu lesen, die Jahre zweckentfremdet als Verpackungsmaterial gedient hat!

Die Moderne besteht aus ihrem Vollzug und dem Unbehagen daran. Der Triumph der "objektiven" Zeit, der Zeit des Man, wie sie Heidegger nicht ohne Verachtung genannt hat, hat, ganz unbeabsichtigt, die subjektive Seite der Zeit zutage gefördert. Auch wenn wir uns alle der Zeit unterwerfen und mehr oder minder pünktlich zu einer Verabredung, in die Redaktionssitzung oder ins Seminar kommen, haben wir doch auch innere, nur uns eigene Zeitmuster.

Wie wir Zeit erfahren, wie lange für uns Zeit dauert, hängt zudem von unserer subjektiven Gestimmtheit ab, wobei die schönen, glücklichen und erfüllten Stunden vorbeifliegen, während das Langweilige und Unangenehme sich zieht, nicht enden will. Time is on my side, sangen einst die Rolling Stones, aber das gilt nur unter äußerst günstigen Umständen. (Wolfgang Müller-Funk, 29.10.2016)