Im Grunde ist die Sache ja deppensimpel: Wenn es dunkel ist, sieht man in der Regel schlechter. Und wenn man selber schlechter sieht und das weder an einem Gebrechen oder Handicap des Sehsinns noch an einer Hand oder sonst etwas vor dem Auge liegt, ist die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, dass es anderen Menschen gerade genauso geht. Dass sie also ebenfalls schlechter sehen – und man selbst von ihnen daher weniger bis gar nicht zu sehen ist.

Foto: Thomas Rottenberg

Auf der Jagd, beim Einbrechen, aber auch in der Balz kann ein dermaßen getrübtes Wahrnehmungsvermögen des Gegenübers durchaus erfolgversprechend sein: Nicht ohne Grund spricht man von "lichtscheuem Gesindel" – oder begibt sich bei der Suche nach potenziellen Paarungspartnern gern an Orte, an denen das Licht schummrig-flackernd ist und auch noch andere Faktoren – etwa Lautstärke und bewusstseinsverändernde Stimulanzien – Kritikfähigkeit und Aufmerksamkeit des präsumtiven Opfers senken.

Soll sein. Nur gibt es halt auch Situationen, bei denen das eigene Wohlbefinden und die individuelle Sicherheit just vom Gegenteil abhängen: vom Gesehenwerden nämlich. Und (sportliche) Bewegung im Freien zu den Tagesrandzeiten gehört da definitiv dazu.

Foto: Thomas Rottenberg

Im Sommer ist Sichtbarkeit kaum je Thema: Weil die Tage länger sind – und auch Nebel, Nieseln und andere Sichtminderer weniger ins Gewicht fallen. Im Herbst aber sieht die Sache anders aus. Ganz anders. Und weil das auch die Hersteller von Outdoor-Gear wissen, gibt es heute kaum mehr Lauf- oder Sportgewand für draußen, in das nicht irgendwo etwas Reflektierendes eingebaut ist. Und während man vor ein paar Jahren auch auf den Laufstrecken der Stadt (und wohl auch am Land) vor allem schwarz bis dunkel unsichtbare Figuren (nicht) sah, poppen einem auf den meisten Laufstrecken heute ständig in Alarmfarben gekleidete Figuren aus dem Zwielicht ins Auge. Ästhetisch nicht immer der Burner – aber trotzdem ein Stück gelebte Sicherheit.

Foto: Thomas Rottenberg

Denn das mit der Sichtbarkeit bei schlechter Sicht ist im Grunde wirklich einfach: In der Dämmerung und bei Nacht sieht der Mensch um bis zu 80 Prozent schlechter. "Dunkle" Objekte tauchen erst 25 Meter vor dem Aufschlag aus dem Nichts auf. Helle haben 40 Meter Puffer. Reflektierende Kleidung kann diese Zone auf bis zu 150 Meter verlängern. Dieser Unterschied kann Leben retten: Der Anhalteweg eines Fahrzeugs beträgt bei 50 km/h 24 Meter. Ab dem Moment, in dem der Fahrer voll in die Eisen steigt – wie lange er braucht, um vom Sehen über das Erkennen zur Reaktion zu kommen, steht auf einem anderen Blatt.

Foto: Thomas Rottenberg

Das wirkt sich in der Unfallstatistik aus: Vier von zehn Fußgängerunfällen ereignen sich im Dunkeln. Obwohl laut Kuratorium für Verkehrssicherheit da nur 20 Prozent aller Fußgänger unterwegs sind.

In der Theorie weiß eh jeder, was da zu tun ist: sichtbar sein. Strahlen. Leuchten. Das Licht fangen – und zurückwerfen. Also Reflektieren: 78 Prozent der Österreicher glaubt prinzipiell an den Nutzen von Reflektoren. Bei Kindern sind es sogar 99 Prozent, die nicken, wenn man sie fragt, ob es mehr Sicherheit bringt, wenn Gewand, Schuhe und Taschen glitzern und blinken.

Doch noch vor zehn Jahren waren nur acht Prozent der Erwachsenen willig, auch sich selbst im Dunkeln bewusst mit Reflektorzeugs auszustatten.

Foto: Thomas Rottenberg

Ob das heute noch immer so ist? Keine Ahnung. Aber die Zahlen haben sich bestimmt geändert. Auch, weil die Outdoorindustrie den Konsumenten die Entscheidung weitestgehend abgenommen hat: Musste man vor zehn Jahren noch nach lichtstarken Applikationen suchen, ist es mittlerweile genau umgekehrt: "Everything is illuminated" ist längst nicht mehr nur der Titel eines ziemlich grandiosen Buchs, sondern gilt sinngemäß auch für Sportgewand jedweder Art.

Foto: Thomas Rottenberg

Wenn es um die Illustration von Sicherheit und Sichtbarkeit geht, ist das, was an meiner Gopro Session – der Kamera, mit der ich fast immer beim Laufen "arbeite" – sonst nervt, geradezu ein Asset: Die Kamera macht alles automatisch. Und sie ist nicht wirklich lichtstark. Im Dunkeln oder im Zwielicht tut sie sich richtig schwer, konzentriert sich beim Einsetzen der Automatik auf die hellen und sichtbaren Punkte – und ist dabei alles andere als schnell. So wie das menschliche Auge: Alles ist ein bisserl diffus. Kontraste, Strukturen und Objekte lösen sich auf. Oder verschwimmen. Bewegt man die Kamera, verwäscht sich alles – legt man sie ab, verschluckt das Halbdunkel unbeleuchtete oder dunkle Objekte. Und alles, was sich bewegt, wird schwer ausmach- oder einschätzbar ...

Foto: Thomas Rottenberg

... außer es hat Signalfarben, leuchtet oder reflektiert: Da ist dann zwar auch nicht immer zweifelsfrei definierbar, worum genau es sich handelt – aber dass da etwas ist, ist nicht zu übersehen: Blair-Witch-Running eben.

Ja, das sieht ein bissi spooky aus und ist fototechnisch alles andere als sauber. Aber genau das illustriert in meinen Augen die (Nicht-)Sichtbarkeit von Menschen (egal ob Sportler oder Spaziergänger) im herbstlich-düsteren Zwielicht an den Tagesrandzeiten.

Foto: Thomas Rottenberg

Und der Vergleich macht sicher: Das vorige Bild ist ohne Blitz gemacht. Dieses hier zeigt exakt das gleiche Motiv – ist aber geblitzt. Mit einer anderen Kamera zwar – aber das tut in dem Fall nichts zur Sache.

Die "Models" auf dem Bild und in diesem Beitrag – das nur nebenbei – sind übrigens großteils die Läuferinnen und Läufer jener Schönbrunner Frühlaufgruppe, die jeden Donnerstag um halb sieben im Schlosspark unter einem anderen Motto läuft.

Auch wenn die Gefahr, auf dem Weg zur Gloriette übersehen und über den Haufen gefahren zu werden, eher gering ist, waren die Kolleginnen und Kollegen so freundlich, meiner Anregung, einmal zu zeigen, was Signalfarben im Zwielicht bewirken, nachzukommen. Danke dafür.

Foto: Jean-Marie Welbes

Neben hellem und signalfarbenem Gewand gibt es dann auch noch speziell für die Sichtbarkeit konzipierte und entworfene Safetytextilien.

Doch das "Problem" bei Sicherheitsgewand für Sportler ist oft, dass die meisten Hersteller davon ausgehen, dass es nur bei kaltem, windigem, nassem oder unwirtlichem Wetter getragen wird. Auch wenn das vermutlich in drei von vier Fällen zutrifft, ist es halt trotzdem nicht immer richtig: Ein helles oder reflektierendes Dings, das zu Hause liegen bleibt, weil es nicht kalt genug dafür ist, nutzt genau gar nichts – und die Warnweste aus dem Auto ist fürs Laufen und Radfahren halt auch nicht optimal.

Manche Hersteller haben das mittlerweile erkannt und stellen superleichte, "alarmfarbene" Kleidung her, die so dünn und luftig ist, dass ihr thermischer Effekt minimal ist: Im Herbst und im Winter, wenn man ohnehin Schichten trägt, ist das nicht weiter relevant – aber an weniger unwirtlichen Tagen erleichtert mir das die Entscheidung für das vielleicht doch lebenserhaltende bisserl mehr an Sicherheit. Insbesondere am Fahrrad.

Foto: Thomas Rottenberg

Noch effizienter als Knall- und Leuchtfarben sind natürlich Reflektoren.

Das, was reflektiert, sind in der Regel kleinste und feinste Glaspartikel, die auf ein Trägermedium aufgetragen und dann (sinngemäß) einlaminiert werden. Damit sich die reflektierenden Trümmer nicht sofort abreiben, beim Waschen vertschüssen, stumpf gerieben werden oder sonst wie verloren gehen oder ihrer Wirkung beraubt werden, ist das, was sie zudeckt, möglichst wasser- und wasauchimmerundurchlässig. Das schlägt sich einigermaßen mit "atmungsaktiv" und Co.

Foto: Thomas Rottenberg

Deshalb bezweifle ich auch, dass Jacken wie diese tatsächlich "sporttauglich" und mehr als ein Gag sind: Manchmal wird das Zurückstrahlen nämlich zum Selbstzweck. Über diese Jacke für Radfahrer stolperte ich vergangene Woche bei der "Wiener Fahrradschau": Auf den ersten Blick ist der "Blitz" tatsächlich beeindruckend – aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob so viel Strahlkraft und Brillanz auf einer dunklen Straße nicht schon wieder blenden und irritieren können.

Ganz abgesehen davon, bezweifle ich eben die Funktionalität: Vor Jahren brachte einer der größten Sportkonzerne des Planeten eine genauso komplett-reflektierende Laufjacke auf den Markt. Die war nicht zu übersehen – aber weder ich noch meine "Beta-Tester" (= Freunde und Bekannte) zogen sie ein zweites Mal an: Die das ganze Ding bedeckende Reflektorfolie unterband jede Form von Atmungsaktivität im Ansatz. Aber ich gebe zu: Ich weiß nicht, ob Reflektorfolien heute nicht ganz anders aufgebaut sind. Ich bezweifle es allerdings.

Foto: Thomas Rottenberg

Ganz abgesehen davon ist durchgehendes Verwenden von Reflektorfolie auch gar nicht notwendig: Man appliziert sie dort, wo es Sinn macht. An Ecken und Kanten, damit das zurückgeworfene Licht dann eine Silhouette oder eine eindeutig als Mensch zu identifizierende Form ergibt. Und an intensiv bewegten Stellen: Da Licht immer im Aufprallwinkel reflektiert wird, erhöht das aber die Wahrscheinlichkeit, dass das Glitzern und Gleißen auch tatsächlich dort ankommt, wo es hin soll – im Auge desjenigen, der eine potenzielle Gefahr darstellt.

Foto: Thomas Rottenberg

Ob das Signalfarben- und Reflektorzeugs ästhetisch-modischen Ansprüchen gerecht wird? Ganz ehrlich? Das ist mir vollkommen wurscht: Beim Laufen im Zwie- oder Schlechtlicht will ich keine Streetstyle-Fotoblogger zum Jauchzen zu bringen, sondern einfach nur nicht übersehen werden. Wenn ich dabei aussehe wie Mitarbeiter der Müllabfuhr oder Straßenarbeiter? Soll sein.

Außerdem: Ganz ohne Grund tragen die ihre Sicherheitskleidung schließlich auch nicht.

(Thomas Rottenberg, 26.10.2016)


Mehr Geschichten über das Laufen gibt es unter www.derrottenberg.com

Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Einige Teile der hier gezeigten Sicherheitsbekleidung wurden vom Funktionstextillabel Skinfit und von den Laufschuhherstellern Saucony und Asics zur Verfügung gestellt

Foto: Thomas Rottenberg