Das, was sich rund um den 60. Jahrestag des Ungarnaufstands in Budapest abspielte, wäre dankbarer Stoff für ein Beckett- oder Dürrenmatt-Drama des absurden Theaters gewesen. Vor dem Parlament hielt Ministerpräsident Viktor Orbán die Gedenkrede.

Er hat den nationalen Freiheitskampf gelobt und seine blutige Unterdrückung durch die Sowjetarmee verdammt. Er zog aber nicht die natürliche Schlussfolgerung der westlichen Demokratien, dass auch heute Putins Russland, mit seiner Annexion der Krim, der verdeckten Intervention in der Ostukraine und der massiven militärischen Unterstützung des Diktators in Syrien immer wieder den Frieden gefährdet. Nein, kein kritisches Wort über Putins Politik.

Die Feinde sind heute jene dunklen Kräfte, die "Brüssel sowjetisieren" oder die gar die Europäische Union in die "Vereinigten Staaten von Europa" umwandeln wollen, jene "die statt uns entscheiden wollen, mit wem und wie wir in unserer Heimat zusammenleben sollten". Im Klartext: Solche Menschen wie Wirtschaftskammerchef Christoph Leitl, der sich nach dem beschämenden Schauspiel um dem Freihandelspakt Ceta für die weitere europäische Integration ausgesprochen hatte, oder wie Bundeskanzlerin Angela Merkel, die für sinnvolle enge internationale Zusammenarbeit bei der Hilfe für Asylwerber und Flüchtlinge plädiert, würden damit die "nationalen und christlichen Wurzeln" Europas vernichten.

Jene Ungarn, die trotz einer beispiellos dichten Postenkette den Parlamentsplatz erreichen konnten und Trillerpfeifen benützten, um gegen Orbáns Politik zu protestieren, wurden Tätlichkeiten ausgesetzt. So schlug zum Beispiel ein Unbekannter dem prominenten Historiker Krisztián Ungváry mit der Faust ins Gesicht, dass er blutete. Er setzte aber seinen Trillerpfeifenprotest unbeirrt fort.

Sein Vater Rudolf Ungváry (80), ein antikommunistischer Autor, der als studentischer Freiheitskämpfer nach 1956 verfolgt wurde und bei der Wende 1989 eine maßgebliche Rolle spielte, hatte Samstag vor dem Museum des Terrors gegen die Verfälschung der 56er-Geschichte protestiert. Unter der Federführung der Multimillionärin und Kommissarin Maria Schmidt wurde mit fünf Millionen Euro Staatsbudget für die Feier zum Gedenken an 1956 in bester stalinistischer Manier der vom Moskowiter zum Patrioten gewandelte, 1958 hingerichtete Ministerpräsident Imre Nagy, der liberale Vordenker István Bibó und die verfolgten reformkommunistischen Intellektuellen, die den Boden für die Revolution vorbereitet hatten, zu Unpersonen gemacht. Als Museumsdirektorin hatte sie in ähnlicher Art nur die Pfeilkreuzler, nicht aber das Horthy-Regime für die Vernichtung von fast 600.000 ungarischen Juden von 1942 bis 1945 verantwortlich gemacht.

Mehrere Tausend Protestierer hörten indes in der Innenstadt den Aufruf der Bürgerrechtsinitiativen und aller Oppositionsgruppen (außer der rechtsradikalen Jobbik) zur überparteilichen Anti-Orbán-Koalition. Die beiden Ungvárys sind die würdigen Vertreter der ungarischen Nation, aber das russenfreundliche, durch und durch korrupte Orbán-Regime bleibt auch nach diesem merkwürdigen Gedenktag ungefährdet. (Paul Lendvai, 24.10.2016)