Frankfurt/Berlin – Die Arbeitswelt wandelt sich immer schneller. Bei ihrer Suche nach neuen Antworten auf Digitalisierung und Globalisierung setzt die deutsche IG Metall auch auf politische Reformen. Die IG Metall stellt den deutschen Sozialstaat auf den Prüfstand.

Er sei aktuell nicht mehr in der Lage, die sozialen Verwerfungen und Ungerechtigkeiten auszugleichen, sagte der Erste Vorsitzende der Gewerkschaft, Jörg Hofmann, der Deutschen Presse-Agentur in Frankfurt. Über neue Konzepte für mehr Chancengleichheit angesichts einer extrem dynamischen Wirtschafts- und Technologieentwicklung will die IG Metall vom kommenden Donnerstag an bei einem Kongress in Berlin diskutieren.

"Wir brauchen ein neues Miteinander von gesetzlichen Regelungen, Tarifverträgen und betrieblicher Mitbestimmung", sagte Hofmann. "Der Markt allein ist ungerecht." Als Beispiel nannte er das weite Thema der Arbeitszeit, die möglichst selbstbestimmt und mitbestimmt organisiert werden müsse.

Der Gesetzgeber müsse hier Mindestanforderungen formulieren, die von den Tarifpartnern und Betriebsparteien auf die jeweiligen Bedürfnisse der Beschäftigten und den Unternehmensalltag ausdifferenziert werden könnten. "Es bedarf auch in Zukunft kollektiver Aushandlung. Der Einzelne sitzt letztlich immer am kurzen Ende."

Bei aller individuellen Freiheit müsse aber klar sein, dass geleistete Arbeit auch tatsächlich vergütet werde. Im vergangenen Jahr seien rund eine Milliarde Überstunden nicht bezahlt worden.

Mehrjähriges Projekt

Hofmann sieht in der Arbeitszeitkampagne der IG Metall ein mehrjähriges Projekt, das nicht mit der nächsten Tarifrunde endet: "Das geht nicht mit einem großen Schlag, da brauchen wir mehr Zeit." Es gebe aber bei dem Thema einen großen Nachholbedarf, räumte der IG-Metall-Chef ein. "Es gibt große regionale Unterschiede und zum Beispiel in vielen Gebieten noch keine Regeln für Arbeitszeitkonten."

Auch für die zeitliche Entlastung von Beschäftigten in bestimmten "Stressphasen des Lebens" existierten bisher nur einzelne Ansätze. Bei vorübergehenden Freistellungen von Beschäftigten etwa zur Pflege von Angehörigen, zur Kindererziehung oder zur Weiterbildung müsse der Gesetzgeber unterstützen, verlangte der Gewerkschafter. So könnten Aufstockungsbeiträge durch Tarifverträge steuerlich begünstigt werden.

Die IG Metall fordert neben einer Pensionsreform und besseren Bildungschancen auch eine Neuorientierung der Arbeitslosenversicherung. Diese müsse strukturell zu einer "Arbeitsversicherung" umgebaut werden, die sich stärker als bisher darum kümmert, dass die Menschen auch angesichts des anstehenden Wandels von Tätigkeiten in Folge der Digitalisierung der Arbeitswelt in Arbeit bleiben können, sagte Hofmann.

Dies bliebe zwar weiter vorrangig Aufgabe der Betriebe. Dennoch brauche man gerade für Beschäftigte kleiner und mittlerer Unternehmen Unterstützung für eine berufliche Neuorientierung. Das müsse als Teil der Versicherungsleistung begriffen werden.

Mit zusätzlichen Kosten rechne er bei alldem nicht, sagte der IG-Metall-Chef. Die Alternativen wären aus seiner Sicht schließlich vielfach unterbrochene Erwerbsbiografien mit entsprechenden Armutsrisiken, mangelnde Perspektiven für die am besten ausgebildete Frauengeneration aller Zeiten und ein umfassender Fachkräftemangel. "Der Saldo für die Gesellschaft ist eindeutig positiv. Das zahlt sich aus", zeigte sich Hofmann überzeugt. (APA, 22.10.2016)