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Das türkische Parlament nach dem Bombardement: Ein Bauingenieur macht ein Erinnerungsfoto. In Europa ist der Angriff in der Putschnacht kaum wahrgenommen worden.

Foto: Reuters / Baz Ratner

Staub liegt auf den dunklen Marmorböden, die Hälfte der Bahnsteige hat noch keine Gleise, und einen Vorplatz zum Vorfahren gibt es auch noch nicht. Aber zum Nationalfeiertag am 29. Oktober, wenn der Präsident persönlich kommt, ist der neue Bahnhof in Ankara fertig. "Selbstverständlich", sagt ein Ingenieur auf der Baustelle. Zwei Wochen bleiben ja noch.

In der Türkei von Tayyip Erdogan hat man viel Erfahrung mit Großbauprojekten zum Ruhm von Präsident und Nation. Der Bosporus war dieses Jahr schon dran mit einer dritten Brücke und jüngst auch einem Straßentunnel. Nun bekommt Ankara einen eigenen Bahnhof für die neuen Hochgeschwindigkeitszüge. Die österreichischen Gäste nicken mit Kennerblick.

Ende Juli war es, zwei Wochen nach dem gescheiterten Putsch, da sperrte die Voestalpine mit ihrem türkischen Partner ein Büro in Ankara auf. Vademsas, so heißt das gemeinsame Unternehmen, produziert Weichen für den Schienenverkehr in der Türkei. Dann rief Ankara seinen Botschafter aus Wien zurück.

Der Ungläubige aus Wien

Zu viel Streit und Grobheiten hatten sich innerhalb kurzer Zeit zwischen den beiden Staaten angehäuft. "Verpiss dich, Ungläubiger", schrieb ein führender türkischer Regierungspolitiker und Erdogan-Berater dem österreichischen Kanzler auf Twitter. Die türkisch-österreichische Krise ist die Sonderkrise in dem Konflikt, den Europa und die USA mit ihrem schwierigen Partner Türkei durchleben.

Nicht anders als die türkischen Bürger versuchen Diplomaten und ausländische Beobachter in Ankara nun zu verstehen, wie dieser Putsch am 15. Juli überhaupt geschehen konnte: so amateurhaft ausgeführt und doch angeblich von so langer Hand geplant. Und vor allem, wohin dieses Land jetzt mit seinem autoritären Präsidenten steuert, der so wenig Sympathien im Westen hat.

Anfang Oktober kam eine Wirtschaftsmission nach Ankara, eine kleine Gruppe potenzieller Investoren aus Österreich, spezialisiert auf Eisenbahntechnik. Die österreichischen Unternehmen sind zurückhaltend geworden. Für viele ist die Türkei mit einem Mal ein fremdes Land. Instabil, unberechenbar, aggressiv.

Dass die Wirtschaftsmission überhaupt zustande kam, ist schon ein Erfolg, sagt Georg Karabaczek, der Handelsdelegierte, und seufzt. Dass der Generaldirektor der türkischen Eisenbahn erscheint und ein paar freundliche Worte sagt, ein noch viel größerer. Am Abend lädt Botschafter Klaus Wölfer zum Empfang. Rund 80 Gäste finden sich immerhin ein. Ein Cocktail in der politischen Eiszeit.

Wölfer nimmt das gelassen, oder wenigstens versucht er, diesen Eindruck zu erwecken. Nach fünf Jahren im Amt ist er der mittlerweile dienstälteste Botschafter der EU-Staaten in Ankara. Immer nur höchstens eine kleine Erkältung oder ein bisschen Hautabschürfung ist fad, sagt Wölfer und vergleicht den Job des Diplomaten mit dem eines Arztes. Man will auch einmal einen Beinbruch haben, den man dann kurieren kann.

"Vor allem lügen sie"

Auf der diplomatischen Verletzungsskala ist ungefähr dies eingetreten. Ein ordentlicher Beinbruch. Österreich sei das "Zentrum des radikalen Rassismus" in Europa, hat der türkische Außenminister Mevlüt Çavusoglu erklärt. "Vor allem lügen sie", sagte er über die österreichische Regierung. Wie der Minister und die konservativ-islamische Führung in Ankara von solchen Vorwürfen wieder abrücken könnten, ist allerdings nicht so leicht ersichtlich. Gesagt ist gesagt.

Und andernorts würde man gern wissen, was die Österreicher nun planen. Ob der Stopp der Beitrittsverhandlungen, den Kanzler Christian Kern zur neuen Regierungslinie erhoben hat, nur dem Wahlkampf für das Bundespräsidentenamt geschuldet sei. Oder aber ob Wien tatsächlich eine langfristige Entscheidung gegen die Türkei getroffen habe.

Dass mit Christian Berger nun ausgerechnet ein Österreicher die Führung der EU-Vertretung in Ankara übernimmt, der mit knapp 200 Personen größten Delegation der Union im Ausland, gilt als unglücklicher Umstand. Federica Mogherini, die Außenpolitikbeauftragte der EU, traf die Wahl noch vor dem türkisch-österreichischen Zerwürfnis im August.

Berger gilt in Ankara als unbeschriebenes Blatt. Er war im Europäischen Auswärtigen Dienst in Brüssel zuletzt als Direktor für Nahost und Nordafrika zuständig. Der Österreicher tritt die Nachfolge des deutschen Botschafters Hansjörg Haber an. Den wollte die türkische Führung nach einer scherzhaft gemeinten Äußerung im Streit um die Visaliberalisierung loswerden.

Mogherini soll sich für den Deutschen nicht sonderlich eingesetzt haben. Haber, Kern, der deutsche TV-Satiriker Böhmermann, das EU-Parlament, der Deutsche Bundestag, die Dänen, Niederländer, Griechen, das Nachrichtenmagazin "Spiegel", das Weiße Haus – mit allen hat sich die türkische Führung angelegt. Dazwischen kam der Putsch.

Die Furcht in den Köpfen

Eigentlich wirkt alles so normal. Ankara ist poliert und modern wie immer, die Ausfallstraßen sind verstopft, die Maschinen nach Istanbul oder Gaziantep morgens wie abends ausgebucht von den türkischen Geschäftsleuten. Die Furcht vor den politischen Säuberungen aber hat sich in viele Köpfe gefressen.

Mehr als 100.000 Bürgern hat die Regierung bereits per Dekret den Arbeitsplatz weggenommen oder sie gleich ins Gefängnis geworfen, seit der Präsident den Ausnahmezustand erklärte. Privatkonten wurden gesperrt, Unternehmen enteignet, Reisepässe eingezogen. Ein Immobilienkredit, der günstigen Zinsen wegen bei der mittlerweile geschlossenen Bank Asya aufgenommen, dem Geldinstitut der Gülen-Bewegung, ist jetzt schon ein Grund, um auf der Liste der Verdächtigen zu stehen.

Wir wissen nicht, was morgen kommt, ist ein Satz, den man nun in Unternehmen wie an Universitäten hinter vorgehaltener Hand hört: ob sie uns holen, weil wir früher einmal etwas gesagt oder geschrieben haben? Mit dem falschen Mann gesprochen oder die falsche Partei gewählt haben? Es ist ein Bruderkrieg der türkischen Islamisten, die Erdogan-Leute gegen die Gülen-Leute.

Aber es geht ja nicht allein gegen das Netzwerk des Predigers Fethullah Gülen, des einstigen Verbündeten im Kampf gegen das alte republikanische Establishment in Ankara. Auch die politisch aktiven Kurden hat der Staatspräsident im Visier – von der Untergrundarmee PKK ganz abgesehen – und überhaupt jede liberale Stimme, jede Gegenkraft, die auf die türkische Zivilgesellschaft Einfluss nehmen und Erdogan einmal herausfordern könnte, wie es die Gezi-Protestbewegung im Sommer 2013 tat.

In den Buchhandlungen gibt es jetzt ein halbes Regal voll mit Putsch- und Gülen-Literatur. Schnell zusammengeschrieben und gedruckt nach dem 15. Juli. Ein Porträtband mit den "Helden der Demokratie", den 241 Opfern des Putschversuchs. Acht Frauen sind darunter. Der Widerstand war Männersache: Taxifahrer, kleine Händler, viele Polizisten.

Schweigen im Westen

Was für ein Signal wäre es doch gewesen, so heißt es kritisch unter Diplomaten, hätte sich Jean-Claude Juncker am Tag nach dem Putsch ins Flugzeug gesetzt und wäre nach Ankara geflogen, um an der Sondersitzung des türkischen Parlaments teilzunehmen. Der EU-Kommissionspräsident tat es nicht. Eine Reihe von Botschaftern der EU-Länder verfolgt an jenem 16. Juli von der Gästetribüne im Plenum aus den kurzen Moment der innenpolitischen Einigkeit. Erdogans Regierungschef schüttelt allen Parteiführern die Hand, selbst dem Kovorsitzenden der prokurdischen HDP.

Dass das Parlament bombardiert worden war, entging der Öffentlichkeit in Europa offenbar; dass Zivilisten in Istanbul und Ankara sich den Putschsoldaten entgegengestellt hatten und dafür mit ihrem Leben bezahlten, verschwindet in der Wahrnehmung. Der Westen ist auf Erdogan und dessen nächste Schritte fixiert. Die Medien in Europa und den USA tragen dafür eine Mitverantwortung.

Wenig Solidarität

Mehr als zwei Monate dauert es, bis die größeren EU-Staaten ihre Außenminister nach Ankara entsenden, um die Solidarität mit der Türkei nach dem Putsch auszudrücken. Spanien, Italien, das Nochmitglied Großbritannien tun es; Deutschland und Frankreich schicken nur den Staatssekretär und den Generalsekretär ihres Außenministeriums, Österreich gar niemanden. Zu viel ist bereits vor dem Putsch passiert.

Erdogan wirkt nun noch stärker und wohl auch populärer. Zugleich aber scheint der türkische Staat gebrechlicher: Armee, Justiz, Polizei, Geheimdienst sind kompromittiert. Es ist die Zeit des Präsidenten. Wir stehen im Jahr 1938, heißt es in Ankara. Es war das Jahr der Beschwichtigung und der Illusion der Westeuropäer, einen Diktator zufriedenstellen zu können. (Markus Bernath, 15.10.2016)