Teile der Zeitungsöffentlichkeit bemächtigten sich der öffentlichen Figur Jelinek mit obszönem Geifer.

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Um Elfriede Jelineks Texte kommt man als deutschsprachige Schriftstellerin nicht herum, sie stehen monolithisch und etwas einschüchternd in der Literaturlandschaft, nicht erst seit 2004. Dabei fordern sie doch die genaue und intellektuell hemmungslose Auseinandersetzung, die sie selbst leisten. Elfriede Jelineks Werk hat mich von Anfang an – und der hieß in meinem Fall: Die Klavierspielerin – durch Radikalität in Sprache und Inhalt in Bann gezogen und begeistert. Die Begeisterung ist gewachsen, die dafür gewählte Formulierung allerdings auf den zweiten Blick nicht ganz zutreffend: Radikal erschien mir diese literarische Arbeit als Heran- und In-eine-Sprache-Hineinwachsender eben nicht, sondern schlicht dem Suchen nach Wahrheit, nach Wahrhaftigkeit im Ausdruck und nach Erkenntnis durch gedankliche Klarheit geschuldet. Es kam mir völlig stringent vor, so zu schreiben, wenn man das Schreiben ernsthaft betrieb.

Umso überraschter, und, ja, durchaus mit jugendlicher Heftigkeit empört, war ich aufgrund der Wahrnehmung von Jelineks Werk durch wesentliche Teile der österreichischen Zeitungsöffentlichkeit, sobald ich sie eben mitbekam, und die Wahrnehmung hielt sich ja nicht lange bei der Literatur auf, sie bemächtigte sich der öffentlichen Figur Jelinek mit geradezu obszönem Geifer und zog sie über Titelseiten und Plakatwände. Insbesondere den Vorwurf des Österreichhassens hielt ich immer für besonders kurzsichtig, denn erstens hassen Jelineks Texte nichts und niemanden, können sie gar nicht, sie sind Ort und Mittel der Analyse, und zweitens ist der Gegenstand der Analyse das menschliche Verhalten, und das hat nun mal recht viele düsteren Seiten und Unter-den-Rasenteppich-Gekehrtes, auch und sicher in recht spezifischer Weise in Österreich, doch eben nicht nur dort. Die Lektüre Jelinek'scher Texte öffnete eine neue Welt für mich, was schonungsloses Bloßlegen gesellschaftlicher Verwerfungen anging. Und dass subkutane Verwerfungen sich nur umso ungestörter und nachhaltiger fortpflanzen, wenn niemand hinschaut, ist eigentlich selbsterklärend; dass das scharfe Hinsehen einen solchen Furor hervorrief, war wohl der beste Beweis für seine Notwendigkeit.

Jelineks Texte gehen immer tiefer, sie gehen ins Detail, ins Innermenschliche: Schon in der Klavierspielerin wird die strukturelle Gewalt im Privaten zum Thema, und zwar zunächst die Gewalt von Frauen gegen Frauen (die Männer werden hier gewalttechnisch nachgereiht, passiv wie aktiv, dafür steigen sie dann umso deftiger ein in den Gebrauch dieses Kommunikationsmediums der Hilflosigkeit), wobei es letztlich nicht einmal der Zweisamkeit als kleinster Zelle der Unmenschlichkeit bedarf, die Gewalt gegen sich selbst braucht gar kein Publikum mehr als den Spiegel. ("Die liebesmäßige Gegenseitigkeit ist schließlich ein Ausnahmefall, liebt doch meist nur einer, und der andere ist damit beschäftigt, davor zu flüchten, soweit ihn die Füße tragen", aus Die Klavierspielerin).

Erweckungserlebnis

Grell werden die alltäglichen Ungeheuerlichkeiten ausgeleuchtet, die das Leben so bietet. Explizit und akkurat benennt der Text die Fremd- und noch viel mehr die Selbstzurichtungen, die Erstere erst ermöglichen, sich in ihnen fortpflanzen, bis sie Letztere im Nächsten wieder zum Keimen bringen können, eine Kette aus ewig weiterreichenden Zurichtungsorganen. Hier wird die Falschheit beschrieben, die die eigenen Motive behübscht, der große Machthunger, dem bereitwillig ein steter Nachschub an kleinen Gemeinheitsbrocken serviert wird, der Selbstbetrug und Selbsthass, der sich im Fremden suchen und dort stellvertretend unterdrücken lässt. Ja, es war ein Erweckungserlebnis.

Und ich folgte der Autorin gerne weiter. Über explizit politische Texte wie Babel, Die Kinder der Toten oder Stecken, Stab und Stangl, das die skandalöse mediale und politische Reaktion auf die Morde an vier burgenländischen Roma zum Thema macht, Morde, die bekanntermaßen von einem völlig im ideologisch luftleeren Raum agierenden Einzeltäter begangen wurden. (Man kann schließlich auch mit treuherzigem Blick die ideologiefreie Verwendung von Kornblumenblau behaupten: Mittlerweile geht fast alles.) Über das Sportstück, das die Selbstzurichtung als schöne Kunst zur Marathonübung macht, zu den Kontrakten des Kaufmanns, in denen die Blasengebirge der Finanzökonomie in all ihrer Begriffshohlheit aufgeschäumt werden, über Die Schutzbefohlenen, in denen die Frage nach den Motiven politischen Handelns im Umgang mit Geflohenen klar zutage tritt, bleibt die Spracharbeit immer exakt und radikal gegenwärtig und stellt dabei durch Verdichtung und Klarheit das Grundsätzliche weit über den Zeitbezug hinweg aus.

Vor allem aber analysiert sich in Jelineks Texten der Denkprozess selbst, oder, korrekter, die denkende Instanz sieht sich andauernd selbst auf die Finger, will sich auf die Schliche kommen, während sie den Grund abklopft und nach morschen Stellen im Sprachgebälk sucht. Berückend und durchaus komisch ist die Schonungslosigkeit, mit der sich die Sprache dazu der Figuren bedient, ganz nahe an sie herangeht, sich um sie herumlegt und aus ihnen heraus spricht. Dazu kommt dann oft die als Beobachterin sich einmischende Erzählstimme, die gerne ein "Sie" ins Spiel bringt, das literarische SIE, mit dem ein "Wir" als Publikum angesprochen wird, wahlweise entgegengesetzt und einbezogen in ein literarisches WIR, das all die "Wirs" zitiert und mimikriert und persifliert, die sich uns so präsentieren und um Stimmen werben, und zwar nicht um die erzählenden.

Die Frage nach der Macht in menschlichen Verhältnissen, egal welchen Maßstabs, die in Jelineks Texten permanent gestellt wird, ist schon implizit eine politische, selbst wenn es um Lust, Gier, Neid oder Noten geht. Noch aufschlussreicher ist die Untersuchung der Arten, in denen normative Deutungshoheiten sich im Denken ausdrücken, das seismografische Aufspüren der Mikrostrukturen, mit denen sie das Denken modifizieren und deformieren, und wie das alles zu Sprache kondensiert, in einer Sprache, die bei Jelinek immer gerne selbst zu Wort kommt, und die "lügt ja, wo man sie lässt". "Die Sprache ist ja auch gleichzeitig schwungvoll und produktiv wie verhüllend", wie es in Die Kinder der Toten heißt, wen sollte es also wundern, wenn das aus ihr Gebaute "leider zusammengekracht" ist.

Assoziative Satzungetüme

Da stellt sich so ein Text prompt selbst auf den Kopf, sich und das Verhältnis von Produktion und Konsumation, wenn etwa die Erzählinstanz des Netzromans Neid festhält, das zu Lesende sei "... alles hier meins, da können Sie sich auf den Kopf stellen, was Sie nicht tun werden, Sie werden nur einen Fingerabdruck abgeben, das Ix, das Kreuzerl oben rechts erwischen, und schon bin ich weg, ich bin weg, verschwunden, und mit mir mein Textkörper, durch den ich leben muss und er durch mich ..."

Die Sprache türmt sich auch gerne auf zu assoziativen Satzungetümen, zu immer grotesker verknoteten topologischen Formationen, bei denen dem Zuschauer schon beim Zuschauen schwindlig wird, bei denen die Leserin atemlos darauf wartet, dass ein Teil abbricht, ein Stück sich löst und aus einem nie ermüdenden inneren Antrieb heraus noch weiter treibt, sich am Geröll reibt und Funken schlägt und dann woanders ganz selbstverständlich andockt und schon wieder eine neue Gedankenbrücke baut. Der Autorin dorthin zu folgen und diese fragilen Gebilde zu betreten mag nicht immer einfach sein, erhellend, lohnend ist es jedenfalls. (Olga Flor, 16.10.2016)