Mit dem Urteil der deutschen Verfassungsrichter in Karlsruhe hat das Investitions- und Freihandelsabkommen zwischen EU und Kanada eine wichtige Hürde genommen – zumindest vorläufig. Ceta dürfte doch Anfang 2017 in einer ersten Etappe in jenen Teilen provisorisch in Kraft treten, bei denen die Regierungen (aber auch Skeptiker) wenig Probleme sehen: im Handelsbereich. Die heftig umstrittenen Inhalte im Pakt jedoch – Schiedsgerichte bei Investitionsstreitigkeiten oder Entscheidungen zur Privatisierung der öffentlichen Vorsorge etwa – sollen erst nach der Zustimmung in regionalen bzw. nationalen Parlamenten im Zuge des Ratifizierungsprozesses nächstes Jahr folgen. Oder eben nicht, sollte ein Land das blockieren.

Die Umsetzung würde also ganz so erfolgen, wie es die EU-Kommission den Regierungen der 28 Mitgliedstaaten und dem EU-Parlament in einer Mitteilung am 5. Juli vorgeschlagen hat: als "gemischtes Abkommen". Dabei müssen die politischen Kompetenzen auf europäischer wie auf nationaler Ebene geteilt und definiert werden.

Die EU-Zentralbehörde kann das als Zwischenerfolg verbuchen. Denn das Erkenntnis aus Karlsruhe ermöglicht es schwankenden Regierungen in anderen EU-Staaten (vor allem in Österreich), den Pakt unter bestimmten Bedingungen zu unterzeichnen. Das Zauberwort heißt: "vorläufig". So werden nach langem Hin und Her wohl auch die SPÖ und Bundeskanzler Christian Kern argumentieren.

Ein solches Vorgehen sei per se kein Bruch des Grundgesetzes, urteilen die Höchstrichter in der Ablehnung der Eilanträge besorgter Bürger, die die Einschränkung der Demokratie befürchten. Würden die in EU-Verträgen abgesicherten Verfahren korrekt eingehalten, so könnte über die heiklen Punkte in Ceta in aller juristischer Feinheit durchaus später befunden werden. Letztlich müsste rechtlich aber sogar ein späterer Ausstieg Deutschlands möglich sein, wenn der Bundestag das wünsche.

Das ist der Kern der Botschaft, die die Höchstrichter an Europas Machtzentren senden. Sie können mit Kanada starten. Man vergebe sich nichts. Aber die eigentliche (materielle) Entscheidung darüber fällt später. Die Höchstrichter selbst wollen sich ebenfalls mehr Zeit geben, den Pakt in aller Ruhe juristisch abzuklären (so wie auch die europäischen Höchsttrichter in Luxemburg in eigenen Verfahren). Präsident Andreas Voßkuhle hat zu Beginn der Verhandlung extra darauf hingewiesen, dass Befürworter wie Gegner von Ceta übertrieben. Es sei jedoch Differenziertheit angesagt.

Nun hat "Karlsruhe" enormes politisches Gewicht nicht nur in Deutschland, wenn es um europäische Politik und Entscheidungen im Grenzbereich von Grundgesetz und EU-Verträgen geht. Es wirkt stark auch auf das Vorgehen in anderen Ländern und in den EU-Institutionen. Das hat sich in den vergangenen Jahren bereits bei ebenso heftig umkämpften Urteilen zur Eurorettung gezeigt. So könnte man es nun auch bei Ceta machen: Einen höchst komplexen EU-Vertrag in Ruhe abarbeiten, auch gesellschaftlich.

Das gilt umso mehr, als der Widerstand gegen gemeinsamen EU-Außenhandel sich vor allem im wirtschaftlich starken Zentrum der Union äußert, so stark wie nirgendwo sonst: in Deutschland und Österreich, stark polarisiert und angefeuert durch gut organisierte Kampagnen. Ein Schritt zurück zur Vernunft täte allen gut: Karlsruhe hat es vorgezeigt. (Thomas Mayer, 13.10.2016)