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Buckelwale (im Bild) wurden wiederholt dabei beobachtet, wie sie Robben wie Leibwächter umkreisen, um sie vor jagenden Schwertwalen zu beschützen. Dieses hilfsbereite Verhalten könnte selbstsüchtige Gründe haben.

Foto: Reuters / Mike Hutchings

La Jolla – Hochsommer in Antarktika: Eine Gruppe von zehn Schwertwalen kreuzt auf der Suche nach einer Mahlzeit durch den Laubeuf-Fjord. Auf einer Eisscholle entdecken sie einen Krabbenfresser. Die Robbe schwebt sofort in akuter Lebensgefahr. Die Schwertwale sammeln sich, schwimmen in Formation und schlagen dabei gezielt große Wellen. Schon bald gerät die Scholle bedrohlich ins Schwanken, von den Rändern bricht Eis ab.

Die Jäger haben dieses Verhalten schon tausendmal geübt. Immer wieder beschert es ihnen Beute, denn die Robben werden schlichtweg ins Wasser gespült – direkt vor ihre Mäuler. An diesem Tag jedoch passiert Ungewöhnliches. Zwei Buckelwale tauchen auf und drängen sich zwischen die Orcas. Wie Leibwächter umkreisen sie den Krabbenfresser auf dem Treibeis, heben ihre Köpfe und blaffen laut. Die Schwertwale scheinen irritiert. Nach ein paar Minuten drehen sie ab. Die Robbe bleibt unversehrt.

Robert Pitman, Biologe am NOAA-Forschungsinstitut im kalifornischen La Jolla, hat obige Szene 2009 selbst beobachtet. Möglicherweise hatte das Schwertwalrudel gar kein so großes Interesse am Krabbenfresser, meint er. Antarktische Orcas machen bevorzugt Jagd auf die fetteren Weddellrobben. Ob das allerdings auch die Buckelwale wussten, ist fraglich.

Zuflucht zwischen Walen

Zudem waren Pitman und seine Kollegen einige Stunden zuvor Zeugen einer ähnlichen Auseinandersetzung. Da hatte eine Weddellrobbe Schutz zwischen den Buckelwalen gesucht. Und entkam ihren Häschern.

Berichte wie diese sind keine Einzelfälle. Meldungen über Konfrontationen zwischen jagenden Schwertwalen (Orcinus orca) und Buckelwalen (Megaptera novaeangliae) liegen aus vielen Ozeanregionen vor. Eine Expertengruppe unter Pitmans Leitung hat aktuell insgesamt 115 entsprechende Aufzeichnungen gesammelt, die Auswertung wurde kürzlich im Fachblatt Marine Mammal Science publiziert.

Die Meeressäuger geraten offenbar regelmäßig aneinander. Nicht selten sind dabei auch andere Tiere involviert – als bedrängte Dritte. Die Buckelwale scheinen ihnen zu Hilfe zu kommen. Fachleute bezeichnen solch selbstloses Verhalten als Altruismus. Unter Angehörigen ein und derselben Spezies wurde es bereits vielfach dokumentiert, doch vergleichbare Unterstützung über Artgrenzen hinweg wies man lange Zeit dem Reich der Fabeln zu. Wahrscheinlich ein Irrtum.

Aggressives Auftreten gegen Prädatoren kommt auch an Land vor. Biologen nennen es Mobbing. Schon die Katze im Garten weiß davon ein Lied zu singen. Kaum schleicht sie durchs Gebüsch, schimpfen oben in den Zweigen lautstark die Amseln. Jedes gefiederte Geschöpf in hundert Metern Umkreis ist nun gewarnt. Es profitieren also viele vom Amseleinsatz, meist beteiligen sich auch andere Vögel am Radau.

Die Tiere bilden eine Solidargemeinschaft. Alle passen auf, und wer als Erster eine mögliche Gefahr entdeckt, schlägt Alarm. Eindeutige Hinweise auf solche Nachbarschaftshilfe entdeckten Forscher unter anderem bei Brutvögeln in Lettland. Zugewanderte Buchfinken waren schon nach einer Woche in das kommunale Warnsystem integriert.

Intelligente Räuber

Mobbende Vögel sind einander von Vorteil, aber welchen Nutzen könnten Buckelwale aus ihrem Engagement ziehen? Die bis zu 16 Meter langen Giganten sind normalerweise friedliche Geschöpfe. Sie haben keine Zähne und ernähren sich von Krill und Schwarmfischen, die sie mittels ihrer Barten aus dem Wasser filtern. Orcas dagegen gelten als die intelligentesten Raubtiere der Welt – abgesehen vom Homo sapiens. Wissenschafter unterteilen Schwertwalpopulationen je nach deren Speiseplan in unterschiedliche Ökotypen.

Manche Stämme zum Beispiel fressen fast nur Lachs oder Hering, andere wiederum haben sich vollkommen auf die Jagd auf Meeressäuger spezialisiert. Auch größere Beute ist vor ihnen nicht unbedingt sicher. Sogar Pottwale wurden schon von Schwertwalrudeln attackiert und getötet.

Buckelwale geraten ebenfalls ins Visier. Die Orcas haben es auf die Kälber abgesehen und suchen wohl gezielt nach Muttertieren mit Nachwuchs. Doch die Erfolgsaussichten scheinen eher gering zu sein. In der Analyse von Pitman und seinem Team finden sich 27 Beobachtungen von Schwertwalüberfällen auf Buckelwalfamilien. Nur einmal fiel den Jägern dabei ein Kalb zum Opfer, ansonsten gingen sie leer aus. Oft hatten Artgenossen der Angegriffenen rechtzeitig interveniert.

Zu groß zum Scheitern

Ausgewachsene Buckelwale können es ohne große Risiken mit Orcas aufnehmen, sagt Pitman: "Sie sind zu groß zum Scheitern." Abgesehen davon verfügt Megaptera novaeangliae über extrem lange und kräftige Brustflossen, deren Ränder dicht mit scharfkantigen Seepocken bewachsen sind. Diese Waffen setzen die Riesen im Kampf wie Säbel ein.

Pitman sieht die Attacken von Buckelwalen auf Schwertwalrudel als altruistisches Mobbing. Die Giganten wenden Zeit und Energie zur Unterstützung anderer auf. Geholfen wird nicht nur Vertretern der eigenen Spezies, sondern auch Grauwalen und ihren Kälbern, Seelöwen und weiteren Robbenarten. Die evolutionsbiologische Basis dieses Verhaltens dürfte gleichwohl der Schutz von Verwandten gewesen sein. Gene solidarischer Wale bekamen so einen langfristigen Selektionsvorteil gegenüber dem Erbgut von eher gleichgültigen Artgenossen.

Der daraus hervorgehende Beschützerinstinkt dürfte sich später ausgeweitet haben. Andere bedrängte Geschöpfe erhielten nun ebenfalls Beistand. Pitmans Erklärung lautet: "Ich denke, Buckelwale sind Altruisten, aber aus selbstsüchtigen Gründen." (Kurt de Swaaf, 15.10.2016)