George R. Stewart: "Leben ohne Ende"
Broschiert, 528 Seiten, € 10,30, Heyne 2016 (Original: "Earth Abides", 1949)
Here comes sickness. Anders als bei "Influenz" diesmal wirklich. In "Earth Abides", dem berühmtesten Roman des US-amerikanischen Autors und Historikers George R. Stewart (1895–1980), fegt eine Art Supermasern-Epidemie um den Planeten und löscht in Rekordzeit fast die gesamte Menschheit aus. Doch wie der Originaltitel kühl verheißt: Die Erde hat Bestand – und findet rasch zu alter Form zurück, nachdem sie ihre Homo-sapiens-Plage zum allergrößten Teil losgeworden ist. Der 1949 erstveröffentlichte Roman zählt zwar nicht zu den Allerersten des Pandemie-Genres, aber zumindest zu den Altvorderen und genießt daher bis heute hohes Ansehen.
Der Protagonist
Hauptfigur des Romans ist Isherwood "Ish" Williams, ein egozentrisch veranlagter Doktorand der Ökologie. Die Seuche hat er als forschender Eremit im kalifornischen Hinterland verbracht. Ein Klapperschlangenbiss wirft ihn für einige Zeit aufs Lager – es bleibt offen, ob sein wochenlanges Leiden nicht doch an einer Infektion lag. Er überlebt aber, kehrt in die Zivilisation zurück und findet sich mitten im klassischen "He, außer mir ist ja gar keiner mehr da"-Szenario wieder. Seine erste Reaktion ist, sich in einem Haus niederzulassen, in dem der Strom noch läuft und der Vorratsschrank noch voll ist, und eine Zwischenbilanz zu ziehen: Bis jetzt, so überlegte er, zog das Ende der Zivilisation keinerlei Schwierigkeiten nach sich – nach einem guten Frühstück eine Zigarette zu rauchen, war nicht das Schlechteste, was einem passieren konnte.
Wer hier einen Hauch von Selbstgefälligkeit zu spüren meint, wird bald merken, dass er sich nicht getäuscht hat. Ish fasst den ehrgeizigen Plan, die Zivilisation wiederaufzubauen, es fehlen ihm bloß noch adäquate Projektpartner. Erste Begegnungen mit anderen Menschen verlaufen für den wählerischen Ish unbefriedigend, und so bricht er mit dem Auto gen Osten auf. Diese Reise nach New York und wieder zurück zum Ausgangspunkt hat keinerlei Konsequenzen für die Handlung, sie bietet lediglich einen Panoramablick auf das von Menschen geleerte Land. Der eigentliche Grund für diese Kapitel dürfte aber sein, dass der Autor selbst mehrfach solche Transkontinentaltrips unternommen und einige Bücher über die US-amerikanischen Highways verfasst hat.
Die ökologische Seite
Zurück in Kalifornien, findet Ish in Emma ("Em") eine halbwegs angemessene Frau – er sieht sich als Geistesmensch, während sie auf einer "tieferen Ebene" empfindet und ihm durch ihre Körperlichkeit und ihr patentes Wesen Trost spendet – und sammelt eine kleine Schar um sich. Anders als in heutigen Postapokalypsen muss sich diese Gemeinschaft übrigens weder mit den scheinbar unvermeidlichen Warlords und marodierenden Banditen noch mit Kannibalen herumschlagen. Probleme gibt es allenfalls mit Tieren, die sich nach dem Verschwinden der Menschen unkontrolliert vermehren und in Wellen eintreffen: Ameisen, Hunde, Ratten, Rinder und sogar Pumas. Zumeist ist das Massenauftreten aber nur ein kurzfristiges Phänomen – die "natürliche Regulierung" durch Seuchen und Nahrungsmangel trifft diese Spezies ebenso wie zuvor den Menschen.
In der Tat kann man Stewarts Roman hoch anrechnen, dass hier sehr früh – lange vor dem Aufkommen der Umweltbewegung – ökologische Aspekte eingebracht wurden. In kursiv gesetzten Einschüben wechselt Stewart immer wieder von Ishs Perspektive zu einer auktorialen Erzählweise, in der er physikalische und biologische Prozesse nach der Pandemie schildert: Wie sich ehemalige Haustiere in der neuen und gefährlichen Freiheit schlagen, wie Kulturlandschaften wieder zu Wildnis werden, wie Gebäude, Wasserleitungen und sonstige Infrastruktur verfallen. In Ton und Inhalt weisen diese Exkurse übrigens eine verblüffende Ähnlichkeit zur Dokufiktion-Serie "Zukunft ohne Menschen" auf. (Wer sich nicht erinnert: Das war die, in der man jedes CGI-Gebäude mindestens sechsmal einstürzen sah – in der Hälfte der Fälle horizontal gespiegelt, damit's nicht immer gleich aussah.)
Eine willkommene Ergänzung dazu bietet das Nachwort, in dem sich Uwe Neuhold wieder mal als das wissenschaftliche Erdungskabel der Science Fiction erweist. Er geht unter Verweis auf historische Beispiele der Frage nach, wie realistisch das Szenario ist, dass eine Pandemie die Zivilisation hinwegfegt. – Nicht sehr, kommt er zu einem beruhigenden Schluss. Die mit Abstand verheerendste Auswirkung hatte bislang die Justinianische Pest des 6. Jahrhunderts, und selbst die tötete "nur" ein Achtel der Weltbevölkerung.
Würstchen mit verzerrter Selbstwahrnehmung
Am stärksten merkt man "Earth Abides" seine fast 70 Jahre an der Hauptfigur an. Ish ist nicht nur auf gönnerhaft-patriarchalische Weise sexistisch, sondern auch rassistisch. Beides muss man im Kontext der Entstehungszeit und dadurch abgemildert sehen. Allerdings war es auch damals schon für einen Akademiker (Autor wie Hauptfigur) kein Ruhmesblatt mehr, wenn ihm zu den Kulturen der amerikanischen Ureinwohner nicht mehr einfällt als: Als sie nicht länger auf Kopfjagd gehen oder hinausreiten konnten, um Pferde zu stehlen oder Skalpe zu erbeuten, hatten sie auch kein Bedürfnis mehr zu irgendetwas anderem. Darauf folgt gleich der nicht ironisch gemeinte Satz: Glücklicherweise konnte er auf einen großen Fundus an Philosophie und Geschichtskenntnissen zurückgreifen, um seiner Überzeugung treu zu bleiben.
Ish hat nicht nur einen ausgeprägten Hang zur Selbstbeweihräucherung, er beurteilt auch alle seine Mitmenschen als ihm unterlegen. Hier seine Bewertungen seiner angehenden Nachbarn: George war ein dicker, watschelnder Kerl, grau an den Schläfen, gutartig, etwas ungeschickt in seiner Ausdrucksweise, aber höchst geschickt in seinem Handwerk – er war Zimmermann. (Schade, dachte Ish. Ein Techniker oder ein Farmer wären besser für uns gewesen.) – Witziger Gedanke eines Mannes, der nicht in der Lage war, einen Zaun zu bauen, der umherziehende Kühe aus dem Gemüsegarten fernhält. Aus der nahen Bibliothek holt sich Ish nach dem Gartenfiasko aber keineswegs Bücher über Landwirtschaft, sondern studiert, was jetzt am meisten gebraucht wird: Geschichte und Philosophie.
Maurine war sein weibliches Gegenstück, nur war sie etwa zehn Jahre jünger, um die vierzig. Sie war so versessen auf ihre Hausarbeit wie George auf seine Zimmermannsarbeit. Was ihre geistigen Eigenschaften betraf, so war George etwas schwer von Begriff, aber Maurine war schlechthin dumm. – Und immer so weiter. – Es ist beinahe so, dachte Ish mit verzogenem Gesicht, als würde man überlegen, ob man jemand Bruderschaft anbieten soll oder nicht, und da die Auswahl nicht sonderlich groß war, durfte man nicht wählerisch sein. – Ja, der Satz könnte Ishs Mitmenschen auch gelegentlich durch die dumpfen Köpfe gegangen sein ...
Seht meine Werke, erbebt!
Kurzer Reality-Check: Über 20 Jahre nach der Pandemie ernährt sich die Gruppe immer noch fast ausschließlich aus Konserven, die man in den verlassenen Häusern findet. Beeindruckend, was der visionäre Leader da auf die Beine gestellt hat. Ish versagt als Farmer, als Arzt, als Lehrer (die Kinder sind einfach zu dumm ... er bleibt sich aber sicher, dass er einen fantastischen Professor abgegeben hätte) und schließlich auch in der eigentlich recht bequemen Rolle, die er sich vor allen anderen zugedacht hatte: als Planer und Überschauer. Als die Wasserleitung kaputtgeht, erinnert sich Ish zwar daran, öfters darüber sinniert zu haben, wo das Wasser eigentlich herkommt. Aber um nachschauen (und eventuell instand setzen) zu gehen, fand er dann irgendwie doch nie die Zeit.
Vielleicht war nur ein besonderer Mensch stark genug, der Welt seinen Stempel aufzudrücken. Über die Diskrepanz zwischen Ishs Selbstwahrnehmung und seinen tatsächlichen Leistungen musste ich mehrfach so herzlich lachen, dass das große Drama, das sich hier abspielt, fast an mir vorbeigeglitten wäre. Was dem Roman natürlich nicht gerecht würde – und tatsächlich folgt noch ein wunderschön-trauriger Schlussteil, der einen mit dem alt und hilflos gewordenen Ish wieder versöhnt.
"Leben ohne Ende" bleibt, alleine schon aufgrund seiner pionierhaft frühen ökologischen Ausrichtung, ein Klassiker. Ein Klassiker mit einer in jeder Beziehung aus der Zeit gefallenen Hauptfigur. Und mit einer Botschaft, die heutigen AutorInnen ans Herz zu legen wäre: Nämlich dass in einem postapokalyptischen Setting ruhig mal die Apokalypse selbst eine dauerhafte Hauptrolle spielen darf, anstatt nur dazu zu dienen, Governors und Negans als eigentlichen Spannungsbringern das Feld zu bereiten.