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Es gibt drei Dinge, an denen Orbán ein nicht nachlassendes Interesse zeigt: Macht, Geld und Fußball

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Paul Lendvai – "Orbáns Ungarn". € 24,00 / 240 Seiten. Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2016.

Das Buch wird am 10. 10. um 19 Uhr im Presseclub Concordia präsentiert.

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Nach sechs Jahren Fidesz-Regierung und angesichts aller Meinungsumfragen stellen auch die schärfsten Kritiker unumwunden fest, dass Viktor Orbán im Alter von 53 Jahren völlig ungefährdet regiert. Der angesehene unabhängige Rechtswissenschafter Tamás Sárközy spricht in einem zur Halbzeit der Legislaturperiode veröffentlichten Essay von einer "Regierung des permanent gewordenen nationalen Freiheitskampfes.

Es handelt sich nicht um eine konservative, christdemokratische Regierung, sondern um ein politisch sehr erfolgreiches Regieren rechts und links der Mitte durch aufstrebende Emporkömmlinge der ersten Generation, die einerseits mit halbfeudalen, patriarchalischen, ordnungsparteilichen Elementen regieren, andererseits mit postmodernen Tendenzen, die der oft beschimpften Globalisierung angepasst werden. Im Mittelpunkt dieses ausschließlich machttechnischen Regierens steht seit 2014 die Erhaltung der Macht um jeden Preis".

Präsidial und zentralisiert

Was man als die Verstaatlichung der Politik angesichts einer beinahe gelähmten Bürgergesellschaft bezeichnen könnte, steht im Zeichen einer de facto präsidialen und zentralisierten Regierung, die von Viktor Orbán nach Belieben dirigiert wird. Die eigentliche Machtzentrale ist mehr denn je das Amt des Ministerpräsidenten (entspricht dem Bundeskanzleramt in Deutschland und Österreich) mit elf Staatssekretären, 18 stellvertretenden Staatssekretären, rund zwei Dutzend Regierungskommissaren und insgesamt fast 800 Beamten.

Geschäftsführender Minister ist János Lázár (41), der frühere Fidesz-Fraktionschef, der aktuell als Nummer zwei des Regimes gilt. Allerdings hat Orbán im Herbst 2015 den Ex-Fraktionschef Antal Rogán (44) im Rang eines Ministers als seinen Kabinettschef mit vier Staatssekretären, zwei stellvertretenden Staatssekretären und einem eigenen Apparat im Amt des Ministerpräsidenten installiert. Er ist gleichrangig mit Lázár und direkt nur Orbán unterstellt.

Der intime Kenner des Werdeganges des "starken Mannes" Ungarns, László Lengyel, meint in seinem Buch Das tote Land, Orbán wolle frei nach Carl Schmitt das Recht und die Macht haben, darüber zu entscheiden, wer Freund und wer Feind ist. Lengyel zieht die Schlussfolgerung: "Sowohl in seiner Innen- als auch Außenpolitik rechnet er mit den liberalen demokratischen Institutionen, Prinzipien und der diesbezüglichen Praxis ab, um entgegen diesen sein auf der Einheit gegenüber den Feinden der Nation, auf dem Führungsprinzip, der autokratischen Autorität, dem permanenten Ausnahmezustand und der politischen Gesetzgebung basierendes illiberales/autokratisches System auszubauen und international als Modell zu verbreiten."

Macht, Geld und Fußball

Nicht nur in den Medien, sondern auch in oppositionellen Kreisen blüht das Rätselraten über die Methoden und die relativen Stärken der rivalisierenden Cliquen am Hof Orbáns und über deren jeweilige Optionen und Ziele, wie auch über den Wandel der Persönlichkeit des "Vezérs" ("Führers"). So wird er ohne Namensnennung schon häufig von Publizisten und in regimekritischen Zeitungen genannt.

Bei einer Diskussion über Viktor Orbán und seine Regierung in den Räumlichkeiten der linksliberalen Publikation Mozgó Világ in Budapest haben zum Beispiel alle Teilnehmer die Behauptung eines bekannten Psychologen zurückgewiesen, der dem "sehr mittelmäßigen" Orbán höchstens die Leitung eines Lederwarenlagers oder eines Geschäftes für Sportartikel zugetraut hätte.

Der erste Chefredakteur der allerersten Fidesz-Zeitschrift (1989–1992), heute Politikprofessor an der Central European University in Budapest, András Bozóki, betonte, "die Politik ist nicht nur eine Frage der Bildung oder des Intellekts. Orbán war von Anfang an von einem verblüffenden Siegeswillen getrieben. Kein Staatsmann, aber ein ,guter Politiker‘ im Sinne der Machttechnik, der Intrigen, der Tüchtigkeit, des politischen Instinktes und mit der Fähigkeit, sich lange an der Macht zu halten.

Auch das konnte er nur erreichen, weil er die Regeln verletzt und die demokratische Ordnung nicht respektiert hat. In Wirklichkeit gibt es nur drei Dinge, an denen Viktor Orbán ein nicht nachlassendes Interesse zeigt: Macht, Geld und Fußball. In dieser Reihenfolge. Es gibt keine Substanz, das Ziel ist, an der Macht zu bleiben, und es geht ganz gut."

Werbekampagne der Regierung

Wenn man die mit ungeheurem Kostenaufwand betriebene Werbekampagne der Regierung über die großartigen Ergebnisse der sechs Orbán-Jahre mit den tatsächlichen Leistungen vergleicht, sollte man die sehr scharfen und pointierten Erklärungen jener angesehenen Ökonomen beachten, die früher in den Orbán-Regierungen Schlüsselpositionen bekleidet hatten. Attila Chikán, Direktor des Forschungsinstitutes für Konkurrenzfähigkeit der Corvinus-Universität, war Wirtschaftsminister in der ersten Orbán-Regierung (1998–2000).

"Die Regierungspropaganda über die erfolgreichen Reformen hat wenig zu tun mit der Realität. Im Jahr 2001 waren wir auf der Rangliste zur Konkurrenzfähigkeit des Weltwirtschaftsforums an der 29. Stelle, jetzt nehmen wir den 60. Platz ein. Noch schlimmer ist die Tatsache, dass wir unter den früheren sozialistischen Mitgliedstaaten die Besten waren, heute aber unter den Nachzüglern sind. Am stärksten lähmt die Korruption die Leistung der Unternehmen. Das bedeutet nicht, dass bei uns jeder korrupt ist, aber der Einfluss der Korrupten in den entscheidenden Positionen der Wirtschaft ist so stark, dass das alles andere bestimmt."

Noch schärfer und umfassender als Chikán kritisiert Tamás Mellár, Professor für Nationalökonomie, der zur Zeit der ersten Orbán-Regierung eine führende Position bekleidet hatte, die Regierungspolitik. Er sieht die Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht als konservativ oder rechts, sondern als eine Mischung, die zum Teil an die sozialistische Zeit, in vieler Hinsicht auch an die 30er-Jahre des Horthy-Regimes erinnert.

Beträchtliche Risse

Mellár spricht vom Aufbau eines halbfeudalen Regimes, von einer in Europa beispiellosen Konzentration des Landbesitzes. "Es fehlt nur noch das Recht der ersten Nacht für die neuen Landherren", sagt er. Die Regierung habe nichts für die Förderung der Klein- und Mittelbetriebe und der Landgüter nach dem erfolgreichen holländischen und dänischen Muster getan. Die Politik der starken Hand, das Gerede über die illiberale Demokratie und das erschreckende Ausmaß der Korruption findet er als konservativer Denker zutiefst abstoßend.

Frühere, in Ungnade gefallene oder selbst in den Hintergrund getretene bedeutende Persönlichkeiten aus dem Umkreis Orbáns sprechen hinter vorgehaltener Hand von beträchtlichen Rissen im Fidesz-Lager, von Eifersucht zwischen den Forint-Milliardären und ihrem Anhang. Es wäre allerdings falsch, Orbáns politisches Fingerspitzengefühl und seine Entscheidungsmacht, gepaart mit Entschlossenheit, zu unterschätzen. Er ist ein routinierter Techniker der Macht und im vollen Bewusstsein seiner einzigartigen Stellung als Chef der Regierung, der Parlamentsmehrheit und der Partei, der mit großer Überlegenheit in einer Krisensituation falls notwendig auch allein entscheiden kann.

Kampf statt Kompromiss

Auch nach 30 Jahren Parteiarbeit bedeutet Politik für ihn Konflikt statt Konsens, Kampf statt Kompromiss. Der Politologe und Direktor des Politikwissenschaftlichen Institutes der Akademie der Wissenschaften, András Körösényi, der den Begriff "Führerdemokratie" geprägt hat, sieht kein "Orbán-System, nur ein Orbán-Regime", weil ein System berechenbar, stabil und dauerhaft sei. "Der wichtigste Zug des Orbán-Regimes ist die beispiellose Machtkonzentration und die Art der Machtausübung.

Die Durchsetzung des politischen Willens und der Machtinteressen hat Vorrang vor dem Rechtsstaat und vor Sachfragen. Das seit 2010 bestehende neue Regime versucht seine Macht mit der Person Orbáns zu legitimieren, und deshalb stellt man ihn als einen Führer mit außerordentlichen Fähigkeiten dar." Körösényi sieht das Überleben des Regimes nach Orbán jedenfalls als fraglich an. Deshalb stimmen die meisten Beobachter, ob pro oder kontra Fidesz, überein, dass die Macht des Regimes mit der Person Orbáns steht oder fällt. (Paul Lendvai, Album, 9.10.2016)