Harald Gutschi: "Kunden verändern ihr Einkaufsverhalten – der Flächenwahnsinn neigt sich dem Ende zu."

Foto: UNITO-Gruppe / Christian Jungwirth

STANDARD: Gibt es ein Produkt, das Sie niemals online kaufen würden?

Harald Gutschi: Nein. Beim Hausbau lässt sich darüber diskutieren. Aber die Anbahnung passiert ja auch hier fast durchwegs übers Internet.

STANDARD: Buchhandlungen und Plattenläden durchstöbern, durch Boutiquen flanieren – nichts davon kann Sie verlocken?

Gutschi: Das mache ich sehr wohl, auf Flughäfen etwa oder in Innenstädten. Aber 70 Prozent der Einkäufe erledige ich online. Bei meiner Frau sind es 30 Prozent, bei meinem Sohn 90 Prozent, obwohl er mit Freunden Zeit in Shoppingcentern verbringt. Das spiegelt ein bisserl unsere Gesellschaft wider.

STANDARD: Sie sprechen gerne von einer Explosion des Onlinemarkts, die in stationären Geschäften Erdbeben auslöst. In Österreich wuchs der Internethandel heuer um drei Prozent. Eine Revolution ist das nicht.

Gutschi: Die Geschäftsflächen sinken jährlich um zwei Prozent. Stationäre Textilhändler verlieren im Jahr eineinhalb Prozent. Das alles klingt nicht nach viel. Läuft es jedoch über Jahre, hat es massiven Einfluss. Es wird kein Vertriebskanal den anderen je völlig verdrängen. Kunden verändern jedoch ihr Einkaufsverhalten – der Flächenwahnsinn neigt sich dem Ende zu.

STANDARD: Warum gibt es über den Onlinemarkt kaum valide Zahlen? Er ist datengetrieben – dennoch basiert seine Größe auf Spekulation.

Gutschi: Das liegt daran, dass sich der einzelne Kunde nicht regional eingrenzen lässt. Der Großteil der Onlineumsätze wird vom Ausland aus erzielt. Datenklarheit kostet viel Geld – Firmen müssten bereit sein, das gemeinsam zu tragen.

STANDARD: Sieben Milliarden Euro soll er in Österreich im Jahr umsetzen. Namhafte Handelsforscher halten das für völlig überzogen.

Gutschi: Richtig ist, dass der Onlineanteil im Lebensmittelhandel bei unter einem Prozent liegt und viele kleine Internetshops nur wenig umsetzen. In Summe wird für Nonfood jedoch bereits jeder fünfte Euro online ausgegeben.

STANDARD: ... wovon nur wenige große Konzerne profitieren.

Gutschi: Das Internet neigt zu einer Oligopolbildung, dazu, dass wenige überdimensional groß werden und viele andere dahinvegetieren. Das lässt sich auf jede Branche herunterbrechen. Rechnet man etwa Amazon raus, bleiben für den Rest nur ein, zwei, drei Prozent Wachstum über. Die Investitionen in Logistik und Lager sind jedoch hoch.

STANDARD: Geht das nicht auf Kosten der Vielfalt der Händler?

Gutschi: Das sehe ich auch so. Ich rate allen, in der Straße, in der sie leben, einzukaufen. Man sollte die Infrastruktur vor Ort halten. Aber sehen Sie sich die Stadtbilder an: auch im stationären Handel in Wien, Paris, New York – überall die gleichen Anbieter. Auch hier setzen sich wenige Große durch.

STANDARD: Amerikaner und Asiaten dominieren den Onlinehandel. Wie konnten die Europäer hier dermaßen in die Defensive geraten?

Gutschi: In China hält Alibaba 90 Prozent des Onlinemarkts. Sie haben ganze Ökosysteme geschaffen, investieren wahnsinnig viel in Innovation. China und die USA sind riesige Märkte, mit einem Rechtssystem, einer Kultur und breitem Zugang zu Kapital, Infrastruktur, Menschen. Der EU mit ihren vielen Sprachen und zerklüfteten Rechtssystemen fehlt die Größe, um mitzuspielen. Sie ist viel zu bürokratisch und reglementiert, das hemmt Innovationen, ein Desaster. Wir bräuchten auch in Österreich eine Digitalisierungsoffensive. Aber wir bringen ja nicht einmal eine Briefwahl zusammen.

STANDARD: Amazon drückt sich in Europa um Steuern. Warum lassen sich große Konkurrenten wie die Otto-Gruppe das gefallen?

Gutschi: Es wird hoher Druck auf die Politik ausgeübt, aber es dauert alles leider lange. Es ist in einem Binnenmarkt ein Witz, dass sich Konzerne steuerrechtliche Vorteile rausverhandeln. Politik muss für gleiche Regeln für alle sorgen. Wie sollen wir ohne Steuern unsere Sozialleistungen erhalten? Erfolgreiche Unternehmen müssen Steuer zahlen: in Europa – nicht irgendwo.

STANDARD: Amazon profitiert dank eines Tarifvertrags für Logistiker von niedrigeren Gehältern.

Gutschi: Otto ist im Einzelhandel tätig, hier gelten höhere Kollektivverträge. Da gibt es keine Waffengleichheit. Aber für den Kunden ist all das nicht entscheidend. Nur wenige verändern deswegen ihr Kaufverhalten. Schade. Trotz aller Streiks und Diskussionen um Arbeitsbedingungen wächst Amazon ungebrochen. Der Konzern hat in der Wahrnehmung Schaden genommen, nicht im echten Umsatzwachstum. Wie ein Zitat von Bert Brecht besagt: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. (Verena Kainrath, 11.10.2016)