Der Mörder Meursault (Gundars Ãbolins, li.) sitzt dem Bruder seines Opfers (Samouil Stoyanov, re.) Rede und Antwort. Die algerische Volksmacht in der Mitte streckt den Arm zum Triumph.

Foto: Judith Buss

Man kann die Hitze in Algier mit Händen greifen. Eine elektrische Sonnenscheibe hängt halbhoch über der Bühne der Münchner Kammerspiele. Ein dünner Fächer Sand bedeckt eine Spielfläche aus Perserteppichen. Mit einfachsten Theatermitteln wird der Schauplatz eines nicht zu sühnenden Verbrechens simuliert.

Den "Fall Meursault" hat der Dichter Albert Camus 1942 ins Rollen gebracht. Ein Algerienfranzose lässt sich von der sengenden Sonne über Algier blenden. Er streckt auf dem Strand einen Einheimischen mit fünf Pistolenschüssen nieder. Meursault, die Hauptfigur in Der Fremde, nimmt die Folgen der Tat auf sich. Doch dem Opfer wird die geringstmögliche Form der Genugtuung schnöde vorenthalten. Der Erschossene erhält vom Autor, einem nachmaligen Nobelpreisträger, keinen Namen zugewiesen. Die Kolonisierten sind nichts Besseres als Dekorationsstücke, Platzhalter in der verwickelten Beweisführung des Absurden.

Der Algerier Kamel Daoud hat den Fall spektakulär wiederaufgenommen. Sein Roman Der Fall Meursault – Eine Entgegnung, erschienen 2013, bildet ein Spiegelkabinett aus lauter Verweisen. Harun, der Bruder des Toten, entreißt das Andenken Musas – des Opfers – dem Vergessen. Die Spirale der Gewalt dreht sich unaufhörlich weiter in diesem ungemein klugen Prosawerk. Dessen Theatralisierung tut jetzt ein Übriges. Entstanden ist in der Regie des Iraners Amir Reza Koohestani eine famose Totenklage, eine Art Wiedergutmachung in Form eines Bühnenessays. Der leistet, der Sonne sei Dank, ebenso Blendendes wie Erhellendes.

Leben und Tod

Denn Harun, der kleine Bruder des Getöteten, macht nicht etwa nur den Franzosen den Prozess. Entstanden ist eine dreifältige Figur. Der alte Harun (Walter Hess) steckt bis zum Hals im Bühnenboden, ein Maghreb-Bruder Winnies, der in den Sand gebohrten Figur aus Becketts Glückliche Tage. Den Besuchern der Moschee speit er Galle entgegen. Er selbst zählt zu den systematischen Gottesleugnern, der die Glaubensbrüder als Krakeeler mit seiner Weinfahne bis aufs Blut reizt.

Harun lebt im Algerien unserer Tage. Sein ganzes Sinnen und Trachten ist dennoch nur auf den Mord von vor 70 Jahren gerichtet. Die Wunde will einfach nicht verheilen. In ihren tätowierten Armen birgt Haruns Mutter (Mahin Sadri) das gerahmte Bild des Toten; Harun steht an ihrer Seite, als siebenjähriger Wiedergänger seiner selbst.

Immer wieder beklagt die Mama die Auslöschung des Andenkens. Sadri scheut sich auch nicht, ihre Figur als Schreckschraube vorzuführen, die den Urlaubern im Liegestuhl das Sonnenbad verdirbt. Musas (Hassan Akkouch) Leichnam scheint wie vom Erdboden verschluckt. Harun aber besitzt eine dritte Bühnenidentität, die eines heiter-sanften Muttersöhnchens (Samouil Stoyanov). Als ein solches hat er scheinbar unbegrenzte Verfügungsgewalt über die Lebenden und die Toten, über die Ereignisse von gestern und über das Elend der Gegenwart.

Worte des Unverständnisses

Die Szene am Strand wird zur "idée fixe" seines Lebens. Und so erwacht der ausgelöschte Musa zum Leben, bloß um seinem hochmütigen Mörder wieder und wieder das Wort seines Unverständnisses an den Kopf zu werfen: "Du hast mich erschossen." Die wenig zuwendungsfähige Antwort aus dem Mund des Kolonisators lautet: "Du bist selbst schuld!"

Musas Leichnam verschwindet im Meer. Videos bezeichnen den Umraum einer Weltgegend, in der das Weltall vor Kälte klirrt und der Zug der Wolken das zweite, nicht weniger ruchlose Verbrechen verdeckt. Harun erschießt, ausgerechnet vom Mond geblendet, einen französischen Flüchtling. Worte werden in der Mikrosekunde zwischen Schuss und Aufprall des Projektils gewechselt.

Wieder steht eine elektrische Scheibe über der Szene. Regisseur Koheestani macht sich das bittere Lachen von Autor Daoud zu eigen. Er jongliert mit den szenischen Brocken eines Diskurses, den man zögert, "postkolonial" zu nennen. Alles ist heillos: Harun wird davonkommen, den Geschmack der Rache auf der Zunge. Er wird im Sozialleben unterkriechen, eine nassforsche Camus-Forscherin kennenlernen und doch niemals befreit und unabhängig sein.

Sein greises Alter Ego sitzt als Erzähler vor dem Publikum, verdammt dazu, sich zu wiederholen. "Wie heißt ihr?", fragt er noch. Daouds Roman liegt genial skelettiert vor dem Betrachter. Das war dem Münchner Publikum Anlass genug, loszujubeln. Völlig zu Recht. (Ronald Pohl aus München, 30.9.2016)